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Nerd Attack

Nerd Attack

Titel: Nerd Attack Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Stoecker
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reisen, wo die universitäre Nutzung elektronischer Medien weit fortgeschrittener war als in Deutschland. An der University of Bristol im Westen Englands bekam jeder Student automatisch eine E-Mail-Adresse und Zugang zu den Rechner-Pools der Fakultäten. Die lagen in der Regel nicht irgendwo im Keller, die meisten davon hatten sogar Fenster und waren mit freundlichem blauem Teppichboden ausgestattet. Manche Professoren verschickten Aufgaben für Hausarbeiten ausschließlich per E-Mail – in Deutschland zu dieser Zeit eine unerhörte Vorstellung. Es gab sogar öffentliche Internet-Terminals, im Gebäude der studentischen Selbstverwaltung etwa, von denen aus sich die Studenten kostenlos einloggen konnten (mit den ungeduldigen Blicken der hinter ihnen Wartenden im Nacken). Ich fand diese Selbstverständlichkeit im Umgang mit dem Netz so faszinierend, dass eine meiner ersten E-Mails aus England an meinen Freund Jan (der an seiner Universität Hilfskraft war und deshalb eine offizielle E-Mail-Adresse besaß) von nichts anderem handelte (»Wie Telefonzellen!«).
    Jedes Mal, wenn ich im Computerraum endlich an einem freien Rechner mit Internetzugang saß, erlebte ich ein Gefühl nahezu ungetrübten Glücks. Zwar sah das, was da auf dem Bildschirm erschien, nicht ansprechender aus als die Benutzeroberfläche des C64: Das Mail-Programm, das auf den Universitätsrechnern lief, präsentierte graue Schrift auf blauem Grund, außer Text in einer Standardschriftart gab es nichts zu sehen. Auf einigen wenigen Maschinen war auch schon der Webbrowser Netscape installiert, aber man musste Glück haben, um eine davon zu erwischen. Beglückend war jedoch ohnehin das, was die schmucklose Benutzeroberfläche eigentlich transportierte: mein digitales Sozialleben.
    E-Mails wurden innerhalb weniger Wochen zu einer meiner Lieblingsbeschäftigungen. Nur an die technisch Zurückgebliebenen zu Hause, die noch nicht in der Lage waren, elektronisch zu kommunizieren, schrieb ich gelegentlich Briefe und Postkarten. Mit zunehmendem Widerwillen, weil Briefmarken ja Geld kosteten. Ich investierte mein bisschen Geld lieber im Pub als im Post Office.
    Menschen, die erst spät als Erwachsene mit Rechnern zu tun bekamen, können dieses elementare Glücksgefühl vermutlich kaum nachvollziehen. Man kann es mit der sich über die Jahre wandelnden emotionalen Bedeutung herkömmlicher Briefpost vergleichen: Für einen 17-Jährigen ist (oder war, damals) ein Brief in aller Regel etwas Erfreuliches. Jemand hat an einen gedacht, sich hingesetzt und etwas aufgeschrieben, sich die Mühe gemacht, es in einen Umschlag zu stecken und einzuwerfen. Im Erwachsenenalter wandelt sich diese Haltung nach und nach, der Gang zum Briefkasten verliert seinen Reiz und wird meist zu einer Pflichtübung. Briefe sind nun vor allem Träger wenig inspirierender Botschaften. Rechnungen. Werbepost. Mahnungen.
    Meine eigene erste Erfahrung mit E-Mails war von den Mühen und Belästigungen des Alltags von Erwachsenen völlig ungetrübt, und das wirkt bis heute nach. Obwohl E-Mails jetzt zu meinen schlimmsten Plagen gehören, weil ich täglich Hunderte erhalte, öffne ich meinen Posteingang nach wie vor mit gespannter Erwartung. Das ist ein emotionales Überbleibsel, ein Relikt aus diesen frühen Tagen.
    Keineswegs waren E-Mails damals mit weniger Aufwand und Einsatz verfasst als handschriftliche Briefe, auch wenn Datenträgernostalgiker das bis heute behaupten. Sie waren nichts anderes als Briefe, mal lustig, mal ernst, manchmal erschütternd, sie erzählten von Exzessen auf der Party, von gebrochenen Herzen, aufregender Musik, alten Wunden, neu gefundenen Freunden. E-Mail war die Erfüllung eines Traums, von dem wir gar nicht gewusst hatten, dass wir ihn hegten. Allein die elektronische Post an meinen Freund Jan aus den zehn Monaten, die ich in Bristol verbrachte, würde 50 Buchseiten füllen. Weil Jan ein akribischer Archivar ist, besitze ich dieses wertvolle Dokument meines Übermuts noch heute.
    Sein E-Mail-Archiv enthält auch Restbestände der Frühformen dessen, was man heute Internethumor nennt. Das multimediale Netz war noch in weiter Ferne. Trotzdem breitete sich das, was in den USA »College Humor« heißt, über die Mailboxen der internationalen Studentenschaft rasant aus. Ich lernte zum Beispiel »50 Methoden, wie du deinen Zimmergenossen wahnsinnig machst«, darunter Vorschläge wie »Kaufe eine Schusswaffe. Reinige sie täglich«, »Verschicke eure Zimmertür an die Eltern

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