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Nerd Attack

Nerd Attack

Titel: Nerd Attack Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Stoecker
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sich, Briefschreiber wissen das seit Jahrhunderten, Dinge sagen, die man im persönlichen Gespräch nie herausbringen würde. Das gilt für Beschimpfungen ebenso wie für Liebesschwüre oder eindeutige Angebote. Schließlich muss man keine unmittelbare Reaktion, also beispielsweise keine sofortige Zurückweisung, fürchten. Im Alltag eines durchschnittlichen Mittvierzigers mag das kaum eine Rolle spielen, im Alltag eines Mittzwanzigers ist es von zentraler Bedeutung. Selbst die harmlos klingende Frage: »Willst Du heute Abend mit mir ins Kino?«, stellt sich unendlich viel leichter per E-Mail oder SMS. Aber die gesenkte Hemmschwelle schriftlicher Kommunikation bleibt auch später nützlich: Täglich werden rund um den Globus Abermillionen schmutziger E-Mails und SMS verschickt. Man muss kein Freudianer sein, um zu konstatieren: Der Siegeszug der elektronischen Kommunikation hat eine Menge mit Sex zu tun.
    Dass auch innige Liebesbriefe inzwischen oft auf PC- oder eben Handy-Tastaturen getippt werden, mag der eine oder andere als Verlust empfinden. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass es längst millionenfach geschieht. E-Mail und SMS sind eben keineswegs per se unpersönliche Kommunikationsmittel, sie können sogar ungleich persönlicher sein: Welcher Brief lässt sich schon so abschicken, dass er die Angebetete um 11 Uhr abends direkt in ihrem Schlafzimmer erreicht?
    War das Internet für seine frühen Benutzer in erster Linie ein Werkzeug, um mit anderen in Kontakt zu treten, so wurde es im Laufe der kommenden Jahre immer stärker zu einem Konsumentenmedium. 1998 ging Google ans Netz und machte die Web-Suche komfortabler und erfolgversprechender, WWW-Seiten wurden zu echten Informationsquellen. Doch der Durchbruch des Netzes als Hochgeschwindigkeitsmedium kam weder mit Google noch mit SPIEGEL ONLINE. Die Anzahl der Breitbandanschlüsse in Deutschland explodierte erst, als ein weiteres Kind der Tabula rasa unerwartet die Bühne betrat und Verwerfungen auslöste, die wir bis heute spüren.

Kapitel 9
     

Das größte Gratiskaufhaus der Welt
     
    Im Jahr 1999 knackte der damals 15-jährige Norweger Lech Johansen den von der Filmbranche als absolut sicher betrachteten DVD-Kopierschutz CSS. Sein Programm DeCSS erlaubte es beispielsweise, den Dateninhalt von Video-DVDs auf die Festplatte eines Rechners auszulesen und von dort aus abzuspielen. Die Filmbranche ging unter Verweis auf das Urheberrecht juristisch gegen DeCSS vor. Die Netzgemeinde reagierte ungehalten. Der Programmcode, nur wenige Zeilen lang, wurde nun erst recht weiterverbreitet, etwa als Bilddatei. Ein Künstler sang ihn und stellte ihn zum kostenlosen Download zur Verfügung. Als gegen Johansen vor Gericht verhandelt wurde, lud die Verteidigung den Informatikprofessor David Touretzky von der Carnegie Mellon University als Zeugen, der argumentierte, die Verbreitung von Software-Codes falle unter das Recht auf freie Meinungsäußerung. Für den Prozess hatte Touretzky sich in Schale geworfen: Er trug ein T-Shirt mit dem vollständigen DeCSS-Code als Aufdruck.
     
    Im Frühjahr 1997 besuchte ich meinen amerikanischen Freund Ezra, den ich im Studentenwohnheim in Bristol kennengelernt hatte, in Kalifornien. Er war inzwischen nach San Francisco gezogen, um sich dort einen Job zu suchen, und lebte in der Wohngemeinschaft eines alten Freundes. Sein einziges Mobiliar bestand in einer Isomatte und einem Schlafsack. Er hatte weder einen konkreten Arbeitsplatz in Aussicht noch eine klare Vorstellung davon, welche Art von Job er mit seinem Chemie-Abschluss wohl bekommen könnte. Er sprang frohgemut ins Nichts. Es war meine erste persönliche Begegnung mit der geradezu sprichwörtlichen Risikofreude der Amerikaner. Der Erfolg des Silicon Valley basiert auf dem gleichen Geist. Xing-Gründer Lars Hinrichs sagt: »In Europa denken Leute vor der Gründung eines Unternehmens an Chancen und Risiken, und je ernster die Sache wird, desto größer werden die wahrgenommenen Risiken. In den USA denkt man an die Chancen.«
    Noch erstaunter war ich, als Ezra mir von seiner Prioritätenliste erzählte. »Das Erste, was ich brauche, ist ein Internetanschluss. « Der war in meinen Augen zwar eine praktische Sache, aber nicht das erste Bedürfnis an einem neuen Wohnort. Als ich meine Zweifel äußerte, sah er mich an, als hätte ich den Verstand verloren. »Ich brauche ein Fahrrad, ich brauche Möbel, vor allem aber muss ich mir schließlich einen Job suchen«, erklärte er

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