Nerd Attack
in einem Tonfall, in dem man mit senilen Greisen oder kleinen Kindern spricht.
Natürlich hatte Ezra recht. Innerhalb weniger Tage hatte er sich per Telefon einen Internetzugang, anschließend, über den Kleinanzeigendienst Craigslist, ein Fahrrad und, über die Online-Angebote lokaler Zeitungen, diverse Vorstellungsgespräche besorgt. Ich sah fasziniert zu, wenn er die Online-Annoncen des »San Francisco Chronicle« und von Craigslist studierte. So etwas gab es bei uns noch nicht.
Für einen Mittzwanziger in den Vereinigten Staaten war das Internet 1997 bereits ein unverzichtbares Stück Infrastruktur. In Deutschland dagegen war ein Internetanschluss 1997 noch verzichtbarer Luxus. Der Großteil der Internetnutzung in meiner Altersgruppe fand nach wie vor auf Universitätsrechnern statt, seltener über das Telefonnetz und 56-K-Modems, die das Betrachten von Web-Seiten in einen je nach Gemütslage meditativen oder quälenden Prozess verwandelten. Noch im Jahr 2000 machten US-Amerikaner 45 Prozent aller weltweiten Nutzer des WWW aus, Deutsche 5,6 Prozent. Dabei hatten 1998 laut statistischem Bundesamt immerhin fast 39 Prozent der Haushalte einen PC zur Verfügung.
2000 wurde schließlich das Jahr, in dem sich in Deutschland alles zu ändern begann, in atemberaubendem Tempo. Die neue Technologie verbreitete sich plötzlich rasend schnell. Kleinaktionäre gerieten in einen Taumel, der am Ende gigantische Summen Geldes vernichtete. Unter den Jüngeren dagegen, denen, die sich keine Aktien leisten konnten, entstand ein Bedürfnis nach noch mehr Digitalisierung, das einmal mehr durch die Aussicht auf einen konkreten, geldwerten Vorteil getrieben wurde: den unbegrenzten Zugang zu kostenloser Unterhaltung.
Der Rausch und der Kollaps
Vielen Deutschen begegnete das Internet um das Jahr 2000 vor allem an zwei Orten: in den Börsennachrichten und der Harald-Schmidt-Show. In den Börsensegmenten von »heute« und der »Tagesschau« war ständig von der New Economy die Rede, Parkettreporter sprachen mit leuchtenden Augen von fantastischen Kursgewinnen und bevorstehenden Börsengängen weiterer Hoffnungsträger. So war im März 2000 eine einzige Aktie des Unternehmens Intershop Communications aus Jena für kurze Zeit umgerechnet 2000 Euro wert. Der Anbieter von Lösungen für den Verkauf von Waren über das Internet gehörte zu den größten Gewinnern am sogenannten Neuen Markt. Zu diesem Zeitpunkt machte Intershop gerade einmal 46 Millionen Euro Umsatz im Jahr – und dabei einen jährlichen Verlust von 19 Millionen.
Intershop-Gründer Stephan Schambach gab sich im Interview mit dem SPIEGEL im Februar 2000 bescheiden. Man mache die Kurse ja nicht selbst, sagte er, das täten die Investoren. Dann aber konnte er sich ein bisschen Wohlbehagen angesichts des eigenen Börsenerfolgs doch nicht verkneifen:»Es musste ja irgendwann passieren, dass diese pfiffigen Ideen belohnt werden, das habe ich schon ziemlich früh gewusst«, sagte der Gründer, dessen Unternehmen auf dem Papier zu diesem Zeitpunkt umgerechnet über 8 Milliarden Euro wert war. »Aber dass das diese Größenordnung annimmt, habe ich nicht geahnt.« Dann schränkte Schmalbach weiter ein, zweifellos ohne zu wissen, wie schnell sich seine Worte bewahrheiten sollten: »Solange die Wirtschaft wächst, ist ein Ende nicht abzusehen; wenn die fundamentalen ökonomischen Rahmendaten sich aber ändern, kriegen alle einen Schreck.« Der Schreck kam früher als erwartet: Im März, wenige Wochen nach dem zitierten Interview, platzte die Spekulationsblase, der Neue Markt stürzte steil und auf breiter Front ab. Die Intershop-Aktie fiel von ihrem Gipfel in der Region um 2000 Euro auf zeitweilig unter einen. Über einen Wert von 2 Euro ist sie seit Jahren nicht mehr hinausgekommen.
Intershop war nur eines von einer ganzen Reihe deutscher Unternehmen, denen es so erging. Einen ähnlichen Absturz erlebten Pixelpark, Consors, EM.TV, Mobilcom und viele andere. Im März 2000 waren die Aktien am Neuen Markt, im erst wenige Jahre zuvor aufgelegten Aktienindex Nemax Allshare, insgesamt 241 Milliarden Euro wert. Im Februar 2002 waren es nur noch 54 Milliarden. Der 21. März 2003 war der letzte Handelstag des Neuen Marktes. Ein Frankfurter Aktienhändler kommentierte den Abgang trocken: »Wir werden ihn nicht vermissen.«
Harald Schmidt, der sich in seiner Sendung monatelang allabendlich öffentlich über das Wachstum seines Aktiendepots gefreut, seine Studiogäste nach
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