Nerd Attack
Kreativen, die den Kopfstoß auch noch mithilfe von Videobearbeitungsprogrammen und viel Fleiß in Hobbyfotografie verwandelten, gilt das Gleiche: Sie besaßen nicht die Genehmigung des Weltfußballverbandes Fifa, diese Bilder zu verwenden und öffentlich zugänglich zu machen, also verstießen sie gegen Lizenz-, Urheber- und wer weiß wie viele andere Rechte. Trotzdem stehen die Clips, inzwischen sind es mehrere Dutzend, bis heute online, im großen Weltvideogedächtnis, zu dem YouTube innerhalb weniger Jahre geworden ist. Die Fifa hatte womöglich ein Einsehen, oder es war einfach den Aufwand nicht wert, wegen einiger unerlaubter Kopien die Anwälte in Marsch zu setzen. Die Kopfstoß-Remixer haben Glück gehabt – viele andere Neubearbeitungen vorhandenen Materials sind längst mit juristischen Mitteln zum Verschwinden gebracht worden. Das alte Urheberrecht scheint in die neue Welt der digitalen Daten nicht so recht zu passen, durchgesetzt aber wird es vielerorts noch immer mit größter Anstrengung. Aus vergleichbaren Anlässen wie den Zidane-Mashups sind schon viele tausend Anwaltsschreiben verschickt worden. Es besteht die Gefahr, schreibt der Harvard-Professor Lawrence Lessig in seinem Buch »Remix«, dass »Ausdrucksformen und Freiheit durch den Extremismus unter die Räder kommen, mit dem ein Urheberrechtssystem verteidigt werden soll, das für ein radikal anderes technologisches Zeitalter geschaffen wurde.« Lessig ist überzeugt: »Künstler und Autoren brauchen Anreize für ihr Schaffen. Wir können ein System aufbauen, das genau das sicherstellt, ohne unsere Kinder zu kriminalisieren.« Der renommierte Jurist ist einer von vielen, die überzeugt sind, dass eine fundamentale Revision des Urheberrechts notwendig ist – an deren Ende mit Sicherheit nicht seine Abschaffung stehen wird.
Nicht lustig finden die Videos auch viele der mittlerweile in die Tausenden gehenden Kommentatoren, die unter einem der zahlreichen Clips ihre Botschaften hinterlassen haben. Da beschimpfen sich italienische und französische Fußballfans wortreich, Materazzi wird als Hurensohn bezeichnet, Zidane als Idiot, die französische Nation mit Fäkalausdrücken bedacht, die italienische als Ansammlung von Waschlappen und Muttersöhnchen diffamiert. Zwischen den Kommentaren auf Italienisch und Französisch finden sich auch deutsche (»Zidane, ich liebe dich für diese Aktion«) und englische, die offensichtlich von Amerikanern stammen (»Soccer sucks«). Einige wenige loben die Arbeit der Schöpfer der Videos (»Der Junge, der das gebastelt hat, muss einen Job kriegen!«), aber die sind eindeutig in der Minderheit.
Auch jetzt werden diese Clips noch immer aufgesucht, angesehen, kommentiert. Sie sind zu Monumenten eines historischen Ereignisses geworden. Natürlich sind die zeitlichen Abstände zwischen den Kommentaren inzwischen größer geworden, doch sie reißen nicht ab. Es ist, als zündeten vorbeikommende Touristen ein Kerzchen für die Fußballhelden der Vergangenheit an, garniert mit einem kleinen Fluch für den Gegner von damals.
All das, was seit dem schicksalhaften Kopfstoß bei YouTube geschehen ist, fällt unter den großen, schwammigen, schon wieder aus der Mode gekommenen Begriff »Web 2.0«. Erfunden hat ihn ein Mitarbeiter des amerikanischen Verlegers Tim O’Reilly, als man auf der Suche nach einem griffigen Schlagwort für eine Konferenz über neue Internet-Technologien war. Als ich O’Reilly im Herbst 2006, ein paar Monate nach Zidanes Kopfstoß, zum ersten Mal interviewte und ihn fragte, ob er vom Begriff »Web 2.0« langsam die Nase voll habe, antwortete er spontan und schwungvoll mit »ja«. Er habe genug davon, ständig und immer wieder erklären zu müssen, was damit gemeint gewesen sei: »Viele Leute versuchen, den Begriff zu verfälschen und ihn in eine Neuauflage der Dotcom-Blase zu verwandeln«, sagte O’Reilly, dabei gehe es um etwas anderes, Wichtigeres, nämlich darum, »kollektive Intelligenz nutzbar zu machen«.
Was die kollektive Intelligenz so hervorbringt auf der leeren Leinwand Internet, der globalen Tabula rasa, ist teilweise höchst beeindruckend, teilweise völlig belanglos. In jedem Fall ist eine nie da gewesene Entwicklung im Gange: Das Prinzip des Remixes, erfunden vermutlich von den Dadaisten, berühmt gemacht als »Cut-up« von William S. Burroughs in den späten Fünfzigern, hat sich zur dominanten globalen Populärkunstform des 21. Jahrhunderts entwickelt.
William S. Burroughs
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