Nerd Attack
wäre begeistert, viele Inhaber von Urheberrechten dagegen sind nach wie vor entsetzt. »Jede erzählende Passage«, schrieb Burroughs einmal, »oder jede Passage, sagen wir, poetischer Bilder, kann beliebig oft variiert werden, und alle Variationen können in sich interessant und gültig sein.« In der Praxis nahm Burroughs eine Schere, zerschnitt Seiten mit Text und setzte sie neu zusammen. Burroughs erfand, gemeinsam mit seinem Freund Brion Gysin, den literarischen Remix. Abmahnanwälte gab es im Paris der späten Fünfziger noch nicht.
Von »Mashup« reden die Remixer von heute, wenn etwa DJ Danger Mouse das »Black Album« des Hiphoppers Jay-Z mit dem »White Album« der Beatles zu einem »Grey Album« vermischt (und damit einen Download-Hit erschafft). Mashups sind Urheberrechte mit Füßen tretende, anarchische, dekonstruktivistische Kunstwerke – und manchmal besser als das Original. Nirvana trifft Michael Jackson, Madonna meets Metallica.
Danger Mouse ist schon lang kein von Klagen bedrohter Outlaw mehr, sondern ein sehr gefragter Produzent. Er produziert die Gorillaz und schaffte als Teil des Duos Gnarls Barkley den ersten Nummer-eins-Hit in Großbritannien, der nur per Download zustande kam: Als »Crazy« auf Platz eins der britischen Charts landete, war die physische Single noch gar nicht in die Läden gekommen. Weil kurz zuvor die Regeln für die britische Hitliste geändert worden waren und nun auch Downloads mitgezählt wurden, konnte der Song als Datei zum Nummer-eins-Hit werden. Das Produkt eines aus Sicht der Musikbranche einst habituellen Diebes, dessen eigentümliche Rhythmik selbst an die Mashup-Ästhetik erinnert, bewies nun, dass auch über das Internet noch mit einem guten Song Geld verdient werden konnte.
Längst hat sich der Begriff Mashup vom Rohmaterial Musik gelöst. Blogger remixen Nachrichten, Hobbyfotografen Fotos – zum Beispiel bei Flickr –, Hobbyprogrammierer ganze Web-Seiten. All die Varianten des Zidane-Kopfstoßes bei YouTube sind nichts anderes als Mashups. Der Mashup ist die perfekte Kunst- und Kulturform für die Nostalgiker der Gegenwart, weil er sich zwangsläufig aus bereits vorhandenen Quellen bedient. Mashup-Künstler balancieren stets auf dem schmalen Grat zwischen Hommage, Satire und einer vollständigen Aneignung, die durch die Verschmelzung etwas tatsächlich eigenständig Neues hervorbringt.
Nicht jedem gefällt das. Es gibt sogar Menschen, die finden, diese gerade unter Jugendlichen so populäre Ausdrucksform sei Kunst zweiter Klasse. Zum Beispiel der Musiker und einstige Pionier des gescheiterten Forschungsfeldes »Virtual Reality«, der US-Amerikaner Jaron Lanier. In seinem Buch »You Are Not a Gadget« lamentiert er, die Popkultur habe ein »Stadium nostalgischer Malaise erreicht«. Lanier: »Die Online-Kultur wird von trivialen Mashups der Kultur dominiert, die vor dem Beginn der Mashups existierte, und von Fantum gegenüber den verfallenden Außenposten der zentralisierten Massenmedien. Es ist eine Kultur der Reaktion ohne Aktion.«
Lanier ignoriert bewusst die Tatsache, dass das Prinzip Mashup deutlich älter ist als das Internet. Und er spricht jeder Form von collagierendem oder rekombinierendem künstlerischen Ausdruck, von Kurt Schwitters bis zu Richard Hamilton, von John Cage bis DJ Shadow, jede künstlerische Bedeutung ab. Der Mashup ist die logische künstlerische Konsequenz postmodernen Denkens. Ihn als »Kultur der Reaktion« zu beschimpfen, verrät eine rückwärtsgewandte Vorstellung von Kunst und Kreativität.
Noch weiter geht der US-amerikanische Autor Andrew Keen in seinem Buch »Die Stunde der Stümper«, einer zum Teil geifernden Abrechnung mit dem Web 2.0, mit Wikipedia, Blogs, YouTube und allem anderen, was da in den letzten Jahren entstanden ist. Keen ist selbst ein Opfer des Dotcom-Booms: Sein Unternehmen Audiocafe.com ging im Jahr 2000 pleite. Heute findet er Mashups noch schlimmer als Tauschbörsen: »Die alten Filesharing-Technologien wie Napster oder Kazaa, denen während des ersten Web-Booms so viel Aufmerksamkeit geschenkt wurde, sind harmlos im Vergleich zu dem ›Remixing‹ von Inhalten und dem ›Mashing-up‹ von Software und Musik, die heute im Web 2.0 möglich sind.« Keen ist der Meinung, unsere Kultur sei in Lebensgefahr: »Der Wert, den die Werke großer Autoren einst besaßen, ist akut bedroht durch den Traum von einer vernetzten Gemeinschaft von Autoren, die ihr Werk permanent kommentieren und korrigieren und in
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