Nerd Attack
Zeit in öffentlich zugängliche Bereiche. Irgendwo in der sonst so streng abgeschotteten und durchorganisierten Welt der Knacker und Kopierer muss es also sehr verlässliche undichte Stellen geben. Die »C’t« zitierte ein weiteres Szenemitglied mit dem Pseudonym »Moonspell« mit den Worten: »Vermutlich denken einige Gruppenmitglieder, sie seien Robin Hood und müssten die Releases im ganzen Internet verbreiten. Denen ist nicht bewusst, dass sie der Szene mit der Publicity schaden.«
Fakt ist: Die Release-Szene bildet heute das Rückgrat der internationalen Tauschbörsen. Ohne ihren ständigen Nachschub an neuen Filmen, Serienfolgen, Songs und Spielen würden Systeme wie Bittorrent langsam, aber sicher austrocknen. Für staatliche Ermittler, die gedungenen Piratenjäger der Unterhaltungsindustrie und das Management der Medienkonzerne selbst bleibt die Situation bizarr: Rechte werden verletzt, die Einnahmen einer Multimilliarden-Dollar-Industrie beschnitten (wenn auch in weit geringerem Ausmaß, als es die Statistiken der Branchenverbände glauben machen sollen), und all das geschieht, ohne dass die ursprünglichen Täter selbst davon einen nennenswerten finanziellen Vorteil hätten. Die Release-Szene ist eine auf den ersten Blick paradoxe, rätselhafte, von keiner Gesellschaftstheorie vorhergesagte Auswirkung der Kombination aus Hacker-Ethik, Technikbegeisterung, Gemeinschaftsgeist und Geltungsdrang – ein prototypisches Kind der Tabula rasa. Ein von vielen Beteiligten mit großem Aufwand und unter großem persönlichem Risiko getragenes Räderwerk, das Konzernen und Polizeibehörden rund um den Globus hämisch grinsend ein Schnippchen nach dem anderen schlägt, immer in dem Bewusstsein, dass man die Technik und ihre ständig wachsenden Möglichkeiten besser beherrscht als die anderen – und in der Regel ohne jeden finanziellen Vorteil.
Das Dilemma und die Hoffnung
Es ist nicht zu bestreiten, dass die rücksichtslose Anwendung des Hacker-Ideals von der freien, diesmal im Sinne von kostenlos verbreiteten Information auf alle Lebensbereiche Probleme verursacht. Handelten alle nach der Maxime der Release-Groups, würde die Musikbranche in ihrer derzeitigen Form nicht mehr lange überleben. Für Software-Entwicklung, Videospiele, Filme und künftig vermutlich auch Bücher gilt das Gleiche: Wenn niemand mehr dafür zu zahlen bereit ist, werden auch die Schöpfer dieser Werke nicht mehr bezahlt. Plattenlabels und Filmstudios, Softwarehäuser und Verlage würden untergehen. Ihre Produkte würde man dann vermissen – unsere Kulturindustrie ist zwar noch nicht sehr alt und ihre Existenz keineswegs gottgegeben, aber wir haben uns nun einmal an den ständigen Strom von Unterhaltung, Ablenkung und manchmal auch Kunst gewöhnt, mit dem sie uns versorgt. Ihr Verschwinden würden die allermeisten Menschen als Verlust erleben, mit Sicherheit auch die Hobbykopierschutzknacker der Release-Szene.
Der Umgang mit diesem Thema ist von Schizophrenie geprägt: Es wird im Zusammenhang mit digitalen Kopien viel auf die Musikindustrie geschimpft, über ihre dinosaurierhafte Unfähigkeit, sich den Gegebenheiten anzupassen, über ihre extrem aggressive Vorgehensweise gegen die eigene Kundschaft. Bei dieser berechtigten Kritik allerdings bleibt es häufig – der Bogen zu der Frage, wie man es denn stattdessen machen könnte, wird selten geschlagen. Daran sind die Generation C64 und ihre schon im Kindesalter erworbenen Kopiergewohnheiten nicht unschuldig. Heute 35-Jährigen ist natürlich im Prinzip klar, dass kostenlose Musik für alle kein nachhaltiges Modell ist. Aus dieser Erkenntnis jedoch Konsequenzen für das eigene Handeln abzuleiten, schaffen sie nicht, genauso wenig wie das Bewusstsein, dass der CO 2 -Ausstoß eine Hauptursache für den menschengemachten Klimawandel ist, Menschen flächendeckend vom Autofahren abhalten kann. Menschen sind chronisch schlecht darin, Verhaltensweisen aufzugeben oder zu ändern, nur weil sie sie als nicht nachhaltig oder gar amoralisch erkannt haben. Dass die Menschen in der Regel wissen, dass Tauschbörsennutzung illegal ist, kann hier vorausgesetzt werden: Einer Umfrage im Auftrag des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels aus dem Jahr 2010 zufolge ist fast 87 Prozent der deutschen Jugendlichen bewusst, dass »Filesharing unter Umständen verboten ist«. Für »falsch« halten es aber nur gut 55 Prozent. Und mit Ladendiebstahl gleichsetzen würden Tauschbörsennutzung nur knapp 28
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