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Nerd Attack

Nerd Attack

Titel: Nerd Attack Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Stoecker
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kann kaum erwarten, von ihr ernst genommen zu werden.

Kapitel 10
     

Remix
     
    »Bekümmert seh’ ich das Geschlecht von heute
Düster und leer ist seiner Zukunft Schoß
Von Kenntnissen erdrückt, des Zweifels Beute,
wächst es heran und altert tatenlos.«
Aus einem Gedicht des russischen Schriftstellers
Michail Lermontow (1814 – 1841)
     
    Als Zinedine Zidane den italienischen Nationalspieler Marco Materazzi im Juli 2006 mit einem Kopfstoß zu Fall brachte, war ich in den USA im Urlaub. Das kleine Finale der deutschen Nationalmannschaft gegen die portugiesische hatte ich in einem mexikanischen Restaurant irgendwo im waldigen Norden von Georgia gesehen, moralisch unterstützt vom mexikanischen Kellner, der nach jedem der drei deutschen Tore mit erhobenen Daumen und breitem Grinsen an unseren Tisch kam und anbot, mehr Bier zu bringen. Das Finale Frankreich gegen Italien aber hatte ich verpasst. Als ich vom Kopfstoß und Platzverweis des Nationalhelden Zidane hörte, wollte ich das unbedingt mit eigenen Augen sehen, und zwar so schnell wie möglich. Ich ging in der Universitätsstadt Athens in die öffentliche Bibliothek und fand dort, wie erwartet, Rechner mit Internetzugang. Ich suchte bei YouTube nach den Stichwörtern »Zidane«, »Materazzi« und »World Cup Final« und fand innerhalb von zehn Sekunden einen kurzen Clip, der die entscheidende Szene zeigte.
    Meine Eltern wären in der gleichen Situation mit Sicherheit anders vorgegangen. Sie hätten sich ein Hotelzimmer gesucht und darauf gewartet, dass die betreffende Szene in irgendeiner Fernsehnachrichtensendung wiederholt wird. Was in den USA durchaus hätte dauern können, denn selbst eine Kampfsporteinlage im Finale einer Fußballweltmeisterschaft ist dort nicht viel mehr als ein Kuriosum. Mir dagegen war klar, dass das Internet mir die gewünschte Information innerhalb von Sekunden liefern würde, ohne lästiges Beiwerk. Und ich fand nicht nur sie.
    Neben dem wenige Sekunden währenden Clip, in dem zu sehen ist, wie Zidane sein kahles Haupt senkt und Materrazi die Schädeldecke vors Brustbein rammt, woraufhin der zu Boden geht, gab es zahlreiche andere. In einem davon war Zidane gar nicht zu sehen. Materazzi spazierte darin über ein Fußballfeld, auf dem merkwürdigerweise eine altmodische Straßenlaterne stand. Er kollidierte mit dem Mast und fiel nach hinten um wie in einem Slapstickfilm. In einer anderen Fassung war Zidane zwar zu sehen, er ging aber nicht zu Fuß. Stattdessen flog er wie eine Rakete waagerecht durch die Luft, um dann mit seinem Kopf die Brust des italienischen Innenverteidigers zu rammen. In einer dritten Version überschlug sich Materazzi nach dem Kopfstoß dreimal rückwärts, bevor er endlich auf dem Boden aufprallte. Es gab mindestens ein Dutzend Varianten, und das kaum 24 Stunden nach dem Vorfall. In den folgenden Tagen kamen weitere hinzu. In manchen kollidiert Materazzi mit Tänzern, die jemand aus Musikvideos herüberkopiert hatte, in anderen wurden die beiden Kontrahenten in Figuren aus dem Videospiel »Mortal Kombat« verwandelt, in einer wirft Nintendos Klempner »Super Mario« Materazzi einen Schildkrötenpanzer an den Kopf, in einer weiteren zielt eine Katze mit einem Scharfschützengewehr auf Materazzis Kopf, verfehlt ihn aber, weil Zidane ihn vorher umwirft.
    Das Internet hatte einmal mehr geliefert, was ich von ihm erwartete: Information, schnell, präzise, ohne Moderatoren, die erst einmal fünf Minuten drumherum reden. Und: Es hatte mir die passende Comedy gleich mitgeliefert. Die frühen Varianten des Videos waren Übertreibungen der einen oder anderen nationalen Sichtweise – Materazzi selbst schuld, Zidane eine gefährliche Waffe. Dann kam eine Prise Nerd-Kultur hinzu – Zitate aus Videospielen, Katzenwitze –, und das Ganze wurde erst richtig skurril. Als letzte Stufe der Aneignung wurden Kompilationen der besten Variationen erstellt, zum Teil versehen mit Zwischentiteln, die das Ganze noch witziger machen sollten. Gebastelt hatten all die Variationen mutmaßlich Teenager und Studenten (Ältere wären nie auf die Idee gekommen, Zidane und »Mortal Kombat« zu verknüpfen).
    Zumindest aus der Perspektive klassischer Medienhäuser ist das alles allerdings gar nicht lustig. All die fleißigen Helfer, die Fernsehaufzeichnungen des Spiels auf die kritischen Sekunden zurechtgeschnitten und dann bei YouTube hochgeladen hatten, machten sich schuldig. Sie verletzten samt und sonders Urheberrechte. Für die

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