Nerd Attack
Zeug endlich mal abzuholen oder wegzuwerfen, sondern auch noch mit dem Gerümpel der halben Menschheit. Die einzige Möglichkeit, in dem Chaos zu finden, was man sucht, scheint zu sein, sich in die Hände einer Suchmaschine wie Google zu begeben. Genau da beginnt aber die Fehlwahrnehmung: Wir sollten nicht damit zufrieden sein, über die Relevanz von Informationen künftig Google entscheiden zu lassen. Wir müssen uns an das Chaos gewöhnen, dabei aber auch weiterhin auf andere Menschen und deren Einschätzungen vertrauen. Das Weitererzähl-Web ist der erste große Schritt in diese Richtung. Soziale Filter können und müssen die maschinellen ersetzen oder wenigstens ergänzen.
Womit wir bei der Klage über zu viel Kommunikation wären, die in diesen Tagen vielerorts zu vernehmen ist. Die Geschwätzigkeit und Belanglosigkeit der digital vermittelten Konversationen wird da beklagt, das Schnatter- und Flatterhafte. Keine Tirade über die Überflüssigkeit von Twitter wäre komplett ohne den Verweis auf Leute, die dort mitteilen, was sie gerade zum Frühstück gegessen haben. Und da ist tatsächlich etwas dran: Es ist wirklich viel leichter geworden, gewissermaßen niederschwellig Kontakt zu Freunden, Bekannten oder Wildfremden aufzunehmen, über E-Mails, Social Networks, SMS und viele andere Kanäle. Das ist meist nützlich, oft erbaulich, kann aber auch lästig sein.
Die Tatsache, dass es einfacher ist als je zuvor, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten, als ein ernstes Problem zu betrachten statt als immense Chance – dazu gehört schon eine gehörige Portion Kulturpessimismus. Es ist auch eine interessante Volte in der Debatte um elektronische Medien: Wo einst vor Vereinzelung, Isolation und drohendem Autismus gewarnt wurde, wird nun plötzlich allzu viel Kommunikation als das wahre Problem identifiziert.
Die pessimistische Wahrnehmung der digitalen Gegenwart und Zukunft, die der US-Autor Nicholas Carr vertritt, ist eine biologistische. Seine Argumentation lautet, wiederum stark verkürzt: Da Computer uns das Leben in vieler Hinsicht leichter machen – etwa, weil das Navigationssystem im Auto uns der Aufgabe enthebt, jeden Weg gründlich mental vorauszuplanen, Taschenrechner uns das Kopfrechnen abnehmen –, machen sie uns auch dümmer. Das erinnert an die Argumentation der Datenträgernostalgiker: Früher war es schwieriger, an Musik heranzukommen und sie sich anzuhören, deshalb war die Musik jener Tage mehr wert. »Wir sind ja früher noch barfuß durch den Schnee in den Plattenladen . . . «
Eine vergleichbare Argumentationslinie verfolgte im Frühjahr 2011 der Chefredakteur der eigentlich sehr internetaffinen »New York Times«, Bill Keller. »Wir outsourcen unsere Gehirne in die Datenwolke«, schrieb er in einem Artikel mit dem Titel »Die Twitter-Falle«. Das Lösen realweltlicher Probleme – Rechenaufgaben, Informationsspeicherung, Orientierung – mithilfe digitaler Medien ist dieser Logik zufolge ein Schritt in die falsche Richtung, weil es die Menschheit zunehmend verweichlichen lässt.
Das Lamento über all die verlorenen Fähig- und Fertigkeiten entlarvt sich selbst als absurd, wenn man es noch ein bisschen weiter in die Vergangenheit treibt. Die wenigsten von uns können heute noch Körbe flechten, Brot backen oder mit Ochs, Egge und Pflug ein Feld bestellen, Letzteres würde uns schon rein körperlich überfordern. Viele hämische Bemerkungen waren in den vergangenen Jahren zu lesen über Hartz-IV-Empfänger, die sich so gar nicht zur Spargel- oder Gurkenernte eignen wollten. Kein Zweifel: Ein Bauer im 18. Jahrhundert war härter als wir, konnte vermutlich auch mit weniger Gejammer Schmerzen aushalten (und starb meist viele Jahre früher). Der Niedergang der Menschheit fing demnach spätestens mit der Erfindung dampfbetriebener Landmaschinen an, wenn nicht schon mit dem Einsatz von Zugpferden.
Denkt man diese Argumentation konsequent zu Ende, bedeutet das: Alle technologischen und wissenschaftlichen Errungenschaften der Menschheit wären besser unterblieben, weil das Leben ohne sie deutlich schwieriger und damit authentischer, echter, besser war. Natürlich fordern weder Carr noch Keller oder Schirrmacher, Autos, Flugzeuge, Fernsehen, Radio, Schrift und das Rad wieder abzuschaffen. Die technikpessimistische Sicht, die sie vertreten, legt aber genau diesen Schluss nahe.
Alle drei sind sich dieses Fallstricks bewusst und umgehen ihn mit einem vorhersehbaren Dreh: Diesmal ist alles anders.
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