Nerd Attack
kommen.
Echte von Amateuren vermittelte Nachrichten über die Ereignisse vor Ort blieben Mangelware. Bei YouTube beispielsweise fanden sich zwar aktuelle Videos, die mit »Mumbai« und »Terror« verschlagwortet waren, doch fast alle waren Mitschnitte von TV-Nachrichtensendungen.
Wenn die Maschinen der großen Nachrichtenorganisationen einmal angelaufen sind, sind sie immer noch das Maß der Dinge. Aber das mediale Ökosystem des Planeten hat sich trotzdem unwiderruflich verändert, das Wechselspiel von privaten, halb öffentlichen und medialen Veröffentlichungen ist kompliziert geworden.
Als die grüne Protestbewegung im Iran sich formierte, um den Wahlsieg von Mahmud Ahmadinedschad öffentlich und lautstark anzuzweifeln, erfuhr die Welt vor allem über Twitter und YouTube von den Ereignissen, weil die Korrespondenten der internationalen Medien kurzerhand ausgewiesen worden waren. Wenige Tage nach Beginn der Proteste sprach ein hochrangiger Militärsprecher eine offene Drohung gegen Blogger und Website-Betreiber im Land aus: Inhalte, die »Spannungen erzeugen« könnten, müssten sofort entfernt werden, andernfalls drohten juristische Konsequenzen. Irans Regime hatte Angst vor dem Netz und beauftragte schließlich sogar Agenten, über Twitter Propaganda und Panik zu verbreiten. Alle großen deutschen Nachrichtensendungen bedienten sich früher oder später bei YouTube, weil an anderes Bildmaterial einfach nicht heranzukommen war. Die Sender unternahmen größte Anstrengungen, um die Echtheit des Materials einzuschätzen, um echte Dokumente der Ereignisse von Propaganda zu unterscheiden. Traditionelle Medien stellt die neue Vielfalt der Kanäle vor große Herausforderungen, es macht sie aber auch unverzichtbar: Das Bedürfnis nach vertrauenswürdiger Einordnung ist im Zeitalter der schwer überprüfbaren Nachricht so groß wie nie zuvor.
Wir alle haben uns innerhalb einer verblüffend kurzen Zeitspanne daran gewöhnt, dass dieser globale, multimediale, unglaublich komplexe Kommunikationsraum existiert. Einen Teil davon haben wir in unseren Alltag integriert, in allerdings höchst unterschiedlicher Intensität. So mancher fühlt sich schon jetzt überfordert.
Kapitel 11
Wir Überforderten
Im April 2005 ging die Meldung um die Welt, elektronische Kommunikation mache nachweislich dumm. CNN titelte: »E-Mails ›schaden dem IQ mehr als Haschisch‹«. Die »Sunday Times«: »Warum SMS Ihrem IQ schaden.« »80 klinische Tests« hätten gezeigt, dass ständige Unterbrechungen durch E-Mails oder SMS den Intelligenzquotienten um im Schnitt 10 Punkte senkten. Die Berichte basierten auf einer Pressemitteilung des Unternehmens Hewlett-Packard (HP), dem Finanzier der »Studie«. Im Januar 2010 gestand der angebliche Entdecker des Effekts, der Psychologe Glenn Wilson, die Studie sei »vielerorts falsch dargestellt« worden. Nur acht Versuchspersonen hätten Testaufgaben bearbeitet. Wurden sie dabei durch ständiges Telefonklingeln und aufblinkende E-Mails abgelenkt, sank, wenig überraschend, ihre Leistung. Vergleiche mit Marihuanagebrauch oder Schlafentzug seien »zweifelhaft«, da der beobachtete Effekt »fast sicher auf vorübergehender Ablenkung basiert«. HP hatte die irreführende Pressemitteilung zu diesem Zeitpunkt längst diskret entfernt. Die zitierten Medienberichte sind unverändert online.
Wer heute aus dem Urlaub kommt, hat mehr Möglichkeiten, seinen Bekanntenkreis über die Ferienerlebnisse zu unterrichten als durch einen Diaabend. Er kann dem Freund im Büro am anderen Ende der Stadt, des Landes, des Kontinents, der Welt morgens blitzschnell seine Ferienfotos zeigen: über Flickr, über Facebook oder MySpace, über Picasa oder Evernote, als E-Mail-Anhang. Parallel könnte er eine Instant-Messenger-Konversation über die Schönheiten von Mallorcas Norden führen. Dabei auf ein YouTube-Video verweisen, das eine besonders halsbrecherische Fahrradabfahrt aus den Bergen nach Sóller zeigt. Über das kleine Fensterchen rechts unten im Browser-Eck seinen 123 Twitter-Followern eben mitteilen, dass er wohlbehalten wieder da ist. Die RSS-Feeds auf interessante neue Nachrichten oder Blog-Einträge checken. Kurz googeln, wie dieses kleine Restaurant in Palma nochmal hieß, das er dem Kollegen für seinen nächsten Urlaub auf der Insel empfehlen wollte. Ihm danach den Link zur Website dieses Restaurants übermitteln – per E-Mail, ICQ, AIM, Twitter, Facebook. Und bei del.icio.us oder Mister Wong ein
Weitere Kostenlose Bücher