Nerd Attack
Carr schreibt in seinem 2010 veröffentlichten Buch »The Shallows«, das Internet habe bereits angefangen »unser Denken zu verändern«, und das klingt bedrohlich. Unser Gehirn tue etwa bei einer Online-Recherche andere Dinge, als wenn wir ein Buch lesen. Das ist nicht verwunderlich, schließlich ist der kognitive Prozess, der sich da vollzieht, ein vollkommen anderer. Carr aber benutzt das Ergebnis, um sich ein introspektives Gefühl zu erklären, das ihn in letzter Zeit beschleicht: »Ich denke nicht mehr so wie früher.« Er könne sich, lamentierte Carr in einem Artikel, der die Basis für die Buchveröffentlichung bildete, beispielsweise nicht mehr so lang auf das Lesen eines Textes konzentrieren: »Meine Konzentration lässt nach einer oder zwei Seiten nach.«
Die Frage ist: Ist daran wirklich das Internet schuld? Diverse Studien haben gezeigt, dass wir alle schon deutlich vor unserem 50. Lebensjahr abzubauen beginnen, wenn auch nicht in jedem Bereich gleich schnell. Manche Fähigkeiten, insbesondere die, Dinge schnell wahrzunehmen, nehmen schon vom Beginn des Erwachsenenalters an ab, die meisten j edoch, glaubt man Längsschnittstudien, etwa ab Mitte zwanzig bis Mitte dreißig. Niemand, der sich erst nach Überschreiten dieses Alters mit digitalen Medien zu beschäftigen begann, ist zu beneiden. Ein langsamer werdender kognitiver Apparat trifft auf eine Welt, die sich augenscheinlich beschleunigt.
Nun aber deuten professionelle Informations(ver)arbeiter ihr persönliches Überforderungserlebnis in ein Menetekel für die gesamte Menschheit um. Mit großer Resonanz – denn die digitale Spaltung zwischen den Menschen, die mit digitaler Technologie aufgewachsen sind, und denen, in deren Leben sie wie eine unerwartete Urgewalt einbrach, sorgt nicht nur für wirtschaftliche Umbrüche, sondern auch für höchst privates Missempfinden, selbst oder sogar gerade bei Menschen, die diese Technologien nicht oder kaum nutzen. Wer sich abgehängt, überfordert und vom Wandel überrollt fühlt, aber zu differenziert für aggressive Nostalgie der schlichteren Prägung ist, nimmt solche Gedanken dankbar auf: Zitierten Carr, Keller und Schirrmacher nicht seriöse Studien, die deutlich zeigen, dass »das Internet unser Denken verändert«, wie sie nicht müde werden zu betonen? Ist da nicht eine wissenschaftlich belegte Bedrohung, die das eigene Unbehagen nicht nur er-, sondern zur einzig vertretbaren Haltung verklärt? Ref 1
Tatsächlich ist die Feststellung, dass das Internet unser Denken verändert, zunächst einmal trivial. Jede Art kognitiver Betätigung sorgt dafür, dass in unserem Gehirn Stoffwechselprozesse ablaufen, die das Gehirn und damit das Denken verändern, und unterschiedliche Arten von Beschäftigung gehen mit unterschiedlicher Aktivierung verschiedener Regionen des Gehirns einher. Keine einzige der Studien, die in dieser Debatte ins Feld geführt worden sind, zeigt wirklich, dass Internetnutzung unser Denkvermögen schwächt. Im Gegenteil, diverse Studien geben Anhaltspunkte, dass die Beschäftigung mit dem Internet und sogar die mit Computerspielen kognitive Leistungen in bestimmten Bereichen verbessern kann. Sie befördern die Hand-Auge-Koordination und die Fähigkeit, sich schnell räumlich zu orientieren. Eine experimentelle Studie an der University of Rochester zeigte 2010 beispielsweise, dass regelmäßiges Spielen des Ego-Shooterspiels »Call of Duty 2« dabei half, in einer simplen Reaktionsaufgabe die aktuelle Situation schnell zu erfassen und anschließend angemessen zu reagieren. Daphne Bavelier, eine der Forscherinnen, erklärte: »Es stimmt nicht, dass Spieler von Actionspielen nur ballern und weniger genau sind: Sie sind ebenso genau und auch schneller« als die Vergleichsgruppe, die das Gesellschaftssimulationsspiel »Die Sims 2« spielte. Schon 2004 zeigte eine Studie in Israel, dass Ärzte, die in Operationen die sogenannte laparoskopische Chirurgie einsetzen, bei der eine Kamera und Operationsinstrumente ferngesteuert werden, deutlich weniger Fehler machten und schneller zum Ziel kamen, wenn sie in ihrer Freizeit regelmäßig Videospiele spielten. Das Ergebnis ist seitdem in diversen Studien wiederholt worden. Manche Universitäten entwickeln inzwischen sogar Trainingsspiele, damit sich angehende Chirurgen vor Operationen »aufwärmen« können. Ref 2
Für die meisten Menschen ist die Frage, inwieweit sich der Gebrauch von Technik und Medien auf ihren Geist auswirkt, jedoch ohnehin
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