Nerd Attack
Lesezeichen dafür ablegen, für später einmal. Und so weiter.
Ein voll aufgerüsteter Webbrowser ist in Verbindung mit ein paar Zusatzwerkzeugen heute eine mächtige Kommunikations- und Informationszentrale, wahnsinnig praktisch – und gleichzeitig ein Aufmerksamkeits- und Produktivitätsfresser, der Henry Ford und Frederick W. Taylor die Zornesröte ins Gesicht getrieben hätte.
Allerdings entspricht der oben beschriebene Netzalltag in Deutschland keineswegs dem Mainstream. Die meisten Menschen nutzen das Netz wesentlich selektiver und zudem weniger intensiv. Der Online-Studie von ARD und ZDF aus dem Jahr 2010 zufolge sind nur 39 Prozent der deutschen Internetnutzer auch Mitglied eines privaten Social Networks wie Facebook, StudiVZ, MySpace oder Wer-kennt-Wen. Fotosammlungen wie Flickr oder Picasa nutzen nur 19 Prozent (im Vorjahr lag die Prozentzahl höher). Online-Lesezeichensammlungen wie del. icio.us oder Mister Wong haben eine Anhängerschaft von gerade einmal 2 Prozent. Und das sind schon die Alteingesessenen unter den Web-2.0-Angeboten. Twitter hat einer Erhebung aus dem Sommer 2010 zufolge 275 000 deutschsprachige Nutzer – bei 49 Millionen Internetnutzern allein in Deutschland keine allzu eindrucksvolle Zahl.
Das WWW und seine Möglichkeiten wachsen in so atemberaubendem Tempo, dass es inzwischen selbst den habituellen »Early adopters« zu viel wird. Das sieht man sehr schön an den Reaktionen auf Googles Rundum-Kommunikations-und-Kollaborations-Wunderwerkzeug namens Wave. Die Neuschöpfung, die im Herbst 2009 mit viel Brimborium vorgestellt und von den Liebhabern digitaler Technologie heiß erwartet wurde, sollte die digitale Kommunikation auf die nächste Stufe heben: Wave erlaubte, grob gesagt, all die oben beschriebenen Aktivitäten wie Fotos hochladen, chatten, Videos vorführen, Notizen ablegen und noch viel mehr, gleichzeitig und in Echtzeit. Die Begeisterung für das von Google heimlich entwickelte und dann auf die Welt losgelassene Projekt war anfangs riesig – kühlte aber relativ schnell ab. Wave war einfach zu komplex, zu vielseitig, es löste Probleme, die kaum jemand wirklich hatte. Im August 2010, weniger als ein Jahr nach dem offiziellen Start, kündigte Google an, man werde die Entwicklung an Wave einstellen. Wegen mangelnden Zuspruchs der Nutzer.
Was derzeit geschieht, ist in der Menschheitsgeschichte bislang einzigartig: Die Entwicklung verläuft so rasant, dass selbst die größten Technikfanatiker nicht mehr nachkommen. Neue Werkzeuge können sich gar nicht so schnell durchsetzen, wie weitere aufgesetzt werden, die Vorangegangenes womöglich schon wieder überflüssig machen. Während ganz vorne, bei den hartgesottensten Allesausprobierern, eine permanente Umwälzung im Gange ist, wartet die Masse der Internetnutzer lieber in aller Ruhe ab – und verlässt sich weiterhin auf die 40 Jahre alte E-Mail als Basiswerkzeug. Die Kluft wird täglich breiter zwischen denen, die wissen, was das Netz schon heute alles kann, die viele seiner Möglichkeiten tatsächlich benutzen, und jenen, denen es viel zu mühsam ist, sich ständig neue Technologien, Kommunikationsformen, Verhaltenskodizes anzueignen.
Ich bin längst selbst Opfer dieser Entwicklung. An meinem Arbeitsplatz in der Redaktion von SPIEGEL ONLINE stehen zwei Monitore. Darauf verteilt sich ein Großteil des Informations-und Kommunikationschaos, dem ich mich an jedem Arbeitstag aussetze: ein Redaktionssystem, in dem Artikel bearbeitet werden, mehrere Browser-Fenster, jedes mit drei bis dreißig geöffneten Registrierkarten, ein RSS-Reader mit mehreren Dutzend Feeds von verschiedenen Weblogs, Nachrichtenseiten und anderen Quellen, ein Ticker mit den Meldungen der großen Nachrichtenagenturen und natürlich ein E-Mail-Programm. Dazu kommen in regelmäßigen Abständen aufpoppende Nachrichten eines Instant-Messaging-Systems, das zur redaktionsinternen Kommunikation benutzt wird, und ein Fensterchen rechts unten in der Ecke meines Standard-Browsers, in dem kontinuierlich Twitter-Kurznachrichten einlaufen. Ab und zu klingelt auch das Telefon.
Zwischen all diesen Informations- und Kommunikationskanälen springe ich hin und her, immer in dem Bewusstsein, dass ich unmöglich alles aufnehmen und verarbeiten kann, was im Minutentakt auftaucht.
Wenn ich abends nach Hause komme, fühle ich mich geistig erschöpft, unkonzentriert, dümmer als am Morgen. Ständige Unterbrechungen, permanente Ablenkung – dazu braucht man keine Studien
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