Nervenflattern
erreichen und bin fast wahnsinnig geworden. Er war immer pünktlich, und wenn es einmal später wurde, dann hat er angerufen. Dieses Verhalten von gestern kannte ich nicht. Aber ich konnte ja auch nicht wissen, dass er um diese Zeit schon längst gestorben war.«
Wieder schossen ihm Tränen aus den Augen. Lenz gab ihm die Zeit, die er brauchte, um weitersprechen zu können.
»Also habe ich mich gegen acht in mein Auto gesetzt und bin nach Wolfhagen gefahren. Seine Mutter hat mir nicht einmal die Tür geöffnet, obwohl das ganze Haus hell erleuchtet war. Ich bin in den Garten und habe sie im Wohnzimmer sitzen sehen. Erst als ich gedroht habe, mit einem großen Stein die Scheibe einzuschlagen, hat sie mich hineingelassen.«
Er schluchzte.
»Sie hat mir gesagt, dass es nun ein Ende haben würde mit uns, weil Dieter sich das Leben genommen hat. Ich sei schuld, hat sie mir immer wieder vorgeworfen, weil ich ihn auf die schiefe Bahn gebracht hätte. Ohne mich wäre ihr Sohn nie in ›diesen Kreisen‹ gelandet, meinte sie.«
Lenz nahm ein Päckchen Zigaretten aus der Schreibtischschublade und bot Leichter eine an. Der lehnte schluchzend ab.
»Stört es Sie, wenn ich …?«
»Nein. Rauchen Sie nur.«
Der Kommissar hatte schon oft mit weinenden und verzweifelten Menschen zu tun gehabt, aber noch nie hatte er einem Mann gegenübergesessen, der um seinen Mann weinte.
»Wie ging es dann weiter?«
»Irgendwann habe ich realisiert, dass sie mich nicht anlügt. Allerdings wollte sie mir keine Einzelheiten erzählen, also habe ich sie dazu gezwungen.«
Lenz schüttelte den Kopf.
»Wie?«
»Es ist mir zum ersten Mal passiert, Herr Kommissar, und es ist mir nicht peinlich. Ich habe Frau Brill mit der flachen Hand ins Gesicht geschlagen. Und ich würde es jederzeit in dieser Situation wieder so machen. Ich habe sie angeschrien und aufgefordert, mir zu erzählen, was sie wusste. Sie hat mich ausgelacht. Dann habe ich zugeschlagen, und sie hat aufgehört zu lachen. Vielleicht hat sie nicht erwartet, dass ein Schwuler zu so etwas fähig ist.« Es klang bitter. »Aber sie hat mir sofort alles gesagt, was sie von Ihnen und Ihrem Kollegen erfahren hatte und mir Ihre Visitenkarte gegeben.«
Was für ein Film läuft denn hier ab, fragte Lenz sich.
»Schön und gut, Herr Leichter, das kann ich alles verstehen. Aber Herr Brill war doch letztes Jahr in psychi-atrischer Behandlung, wenn ich seiner Mutter glauben kann? Sie sagte mir, dass er unter Depressionen litt.«
»Das stimmt, Dieter war letztes Jahr ein paar Wochen in einer Klinik, und seitdem ging es ihm immer besser. Er hätte sich niemals das Leben genommen. Niemals.«
»Stimmt es, dass er wegen Depressionen in Behandlung war?«
Leichter zuckte mit den Schultern.
»Ja, natürlich. Aber er nahm seitdem ein Medikament und hat eine ambulante Therapie gemacht. Wir haben erst letzte Woche darüber gesprochen, wie sehr sich sein Leben verändert hatte und wie gut es ihm ging. Er war vor genau einem Jahr in die Klinik gegangen, wissen Sie. Unser Leben hatte sich genau dort wieder eingependelt, wo es vor seiner Erkrankung stattgefunden hat.«
»Wo hat ihr Leben denn stattgefunden?«
»Wir haben uns vor vier Jahren ein Haus in Bettenhausen gekauft. Offiziell hat er oben gewohnt und ich unten. Was wir im Innern gemacht haben, ging keinen etwas an.«
Lenz drückte den Rest der Zigarette in den Aschenbecher und griff in die Schreibtischschublade, wo er am Morgen den Ring des Toten deponiert hatte. Er zog ihn aus der Kunststoffhülle und zeigte ihn dem Besucher.
»Haben Sie den schon mal gesehen?«
Leichter machte große Augen und fing wieder an zu weinen.
»Natürlich. Ich habe ihn Dieter geschenkt.«
»Können Sie mir sagen, was hier eingraviert ist?«, fragte Lenz und ließ den Ring in seiner rechten Faust verschwinden.
Leichter nannte ihm das richtige Datum und den Rest der Gravur.
»Hm«, machte Lenz. »Wenn Sie also ganz sicher sind, dass Ihr Partner sich nicht selbst umgebracht hat, wie glauben Sie dann, ist er ums Leben gekommen?«
»Vielleicht war etwas mit dem Auto, ich weiß es nicht. Allerdings hat er es erst letzte Woche aus der Inspektion geholt. Die Bremsen waren neu gemacht und irgendwas am Motor. Was genau kann ich Ihnen nicht sagen, da müsste ich zu Hause in der Rechnung nachsehen.«
»Nein, nein, Herr Leichter, einen technischen Defekt können wir ausschließen. Unsere Kriminaltechniker haben noch in der Nacht das Auto untersucht, bis zum Moment des
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