Nervenflattern
was er sagt, müssen wir noch mal zu der Mutter fahren.«
Lenz sah ihn mit heruntergezogenen Mundwinkeln an.
»Wenn das alles wahr ist, was der Vogel hier gerade erzählt hat, dann müssen wir die Geschichte aus einer ganz anderen Perspektive betrachten. Und ich weiß nicht, wie es jetzt weitergehen soll. Am einfachsten wäre es, ich gehe mal bei Marnet vorbei und bespreche die Sache mit ihm. Er ist der Herr des Verfahrens, er soll entscheiden, wie es weitergeht.«
»Gute Idee«, sagte Hain und sah auf seine Uhr.
»Beeil dich aber, sonst ist der Herr schon auf dem Weg ins Wochenende. Ich werde auf jeden Fall jetzt in der Rechtsmedizin vorbeigehen und mir den Rücken des Toten ansehen, damit wir wenigstens vom richtigen Herrn Brill sprechen.«
Lenz nickte.
»Schön. Wir sehen uns dann heute Nachmittag hier wieder.«
Hain stand auf und verließ das Büro.
Lenz wählte Marnets Nummer. Nach dem zweiten Klingeln hörte er die Stimme seiner Sekretärin.
»Büro Oberstaatsanwalt Marnet, Kleinhans, guten Tag.«
»Hauptkommissar Lenz, guten Tag Frau Kleinhans. Kann ich Herrn Marnet sprechen?«
»Das tut mir leid, Herr Lenz, der Herr Oberstaatsanwalt ist vor 15 Minuten gegangen. Kann ich etwas ausrichten?«
»Kommt er heute noch mal zurück?«
»Nein, er ist erst am Montag wieder hier. Wegen dem Feiertag, Sie wissen ja.«
Und ob ich weiß, dachte Lenz und grinste. Und ich weiß, dass der Genitiv dem Dativ sein Feind ist, Frau Kleinhans.
»Ist es was Wichtiges, Herr Lenz?«
»Ja und nein. Wissen Sie vielleicht, ob er die Leiche des Selbstmörders von gestern schon freigegeben hat?«
»Ja, gerade vorhin. Er hat mit den Kriminaltechnikern telefoniert und dann den Leichnam freigegeben. Wie ich es verstanden habe, gab es ja an dem Selbstmord keinen Zweifel, oder?«
»Nein. Hat er vielleicht eine Mobilnummer, unter der ich ihn erreichen kann?«
»Die hat er schon, aber ich darf sie Ihnen nicht geben. Nur wenn es um Leben und Tod geht, darf ich die Nummer herausgeben. Ansonsten müssten Sie sich an den Bereitschaftsdienst wenden. Geht es denn um Leben und Tod?«
Lenz hatte die Nase gestrichen voll.
»Nein, Frau Kleinhans, geht es nicht. Ich versuche es dann eben am Montag noch einmal. Auf Wiederhören.«
Er warf den Hörer auf die Gabel und lehnte sich im Stuhl zurück.
6
»Hain hat sich den Leichnam angesehen, und es besteht kein Zweifel, dass es sich tatsächlich um Brill handelt. Ich habe nach dem Anruf bei Marnet Dienst nach Vorschrift gemacht. Nachmittags waren wir noch mal bei der Mutter von Brill in Wolfhagen, aber sie war nicht da. Dann hatte ich keine Lust mehr und hab Feierabend gemacht.«
Lenz saß im ICE von Kassel nach Hannover, schräg gegenüber Maria Zeislinger. Sie hatten sich um halb acht am Bahnsteig getroffen, aber zunächst so getan, als würden sie sich nicht kennen. Erst als der Zug den Bahnhof verlassen hatte, setzte sich Lenz auf seinen Platz. In einem Tunnel hielten sie sich kurz an den Händen, es sollte der einzige Körperkontakt bis Hannover bleiben.
»Ich bin noch immer wütend, wenn ich an das Telefongespräch denke. So viel Borniertheit erlebst du nicht jeden Tag.«
»Die Frau hat ihre Anweisungen, Paul. Marnet ist nun mal ein windiger Hund, der will nicht gestört werden, wenn er mit seinem Schneckchen unterwegs ist.«
Die Familien Zeislinger und Marnet waren gut bekannt, deswegen wusste sie von Marnets junger Freundin. Aber eigentlich war das stadtbekannt.
Maria trug einen grauen Hosenanzug und eine helle Bluse. Sie hatte ihr leicht rötlich schimmerndes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, weil sie wusste, dass Lenz das so am liebsten mochte. Die Sonne beleuchtete ihr Gesicht durch die getönte Scheibe des Abteils und gab ihr einen exotischen Ausdruck. Sie war 41, vier Jahre jünger als Lenz, und wenn man genau hinsah, konnte man ihr die Jahre auch ansehen. Für Lenz war sie die Frau, auf die er immer gewartet zu haben schien; allerdings sah es so aus, als würde sie nie ganz in seinem Leben ankommen.
Er kannte Maria seit sechs Jahren und ein paar Monaten. Sie waren sich einige Male beim Bäcker begegnet. Und als er eines Tages am einzigen Stehtisch der kleinen Bäckerei dabei war, einen Kaffee zu trinken und in der Tageszeitung zu schmökern, fragte sie, ob sie sich einen Moment zu ihm stellen könne, um ebenfalls einen Kaffee zu trinken. Lenz hatte keine Ahnung, wer die Frau war, jedoch war sie ihm sympathisch. Ein paar Tage später trafen sie sich
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