Nervenflattern
so genau weiß ich das Datum leider nicht mehr. Soman ist ein Phosphorsäureester und gehört zu den Pflanzenschutzmitteln. Es ist gut in Wasser löslich und zerfällt weder im Sonnenlicht noch bei Temperaturen unter 49 Grad Celsius. Von den mit Gx bezeichneten Nervenkampfstoffen Soman, Tabun und Sarin ist Soman das mit Abstand giftigste und persistenteste.«
Er sah in die fragenden Gesichter seiner Zuhörer.
»Ach so, ja. Als Persistenz bezeichnet man in der Biologie die Eigenschaft von Stoffen, unverändert durch physikalische, chemische oder biologische Prozesse über lange Zeiträume in der Umwelt zu verbleiben.«
»Klingt charmant«, kommentierte Lenz.
»Wie man es nimmt. Der zweite angesprochene Stoff ist, wie gesagt, VX. Und das Zeug ist noch einmal wesentlich giftiger als Soman. Vielleicht hat jemand von Ihnen den Film ›The Rock‹ mit Sean Connery und Nicholas Cage gesehen? Da ging es ebenfalls um einen Angriff mit VX. Allerdings haben wir Fachleute alle gelacht über die Farbe, mit der das VX dargestellt wurde. Im Gegensatz zum Film ist es nämlich nicht giftgrün, sondern farblos, bestenfalls ganz leicht gelblich.«
Jetzt war der Chemiker in seinem Element. Er legte die Stirn in Falten.
»Woran stirbt man eigentlich konkret, wenn man das Zeug abbekommen hat?«, wollte Hain wissen.
»Die Giftwirkung beruht auf einer Hemmung der Acetylcholinesterase. Durch diese Blockade in den Synapsen des parasympathischen vegetativen Nervensystems kommt es zu einem Anstieg des Neurotransmitters Acetylcholin in der Synapse und damit zu einer Dauerreizung des Parasympathikus. Ich will Sie jetzt nicht mit chemischen Einzelheiten langweilen, aber es ist auch für einen Nichtchemiker recht einfach darzustellen. Der Kampfstoff dringt entweder über die Haut, die Augen oder die Atemwege in den Körper ein und verursacht zuerst Husten und Übelkeit. Dazu kommt die verstärkte Produktion von Nasensekret, Speichel und Tränenflüssigkeit. Es folgen starke Kopfschmerzen, Erbrechen und Durchfall. Wenn die Vergiftung einen gewissen Grad erreicht hat, kommen Krämpfe der Skelettmuskulatur, starke Atemnot, Verwirrtheit und Angstzustände hinzu. Der Tod tritt in der Regel durch Atemlähmung ein.«
»Wie lange dauert es denn, bis man tot ist?«
»Bei VX geht das innerhalb von Minuten. Dazu reicht eine Menge, die sich viele Menschen gar nicht vorstellen können. Ein Milligramm ist bei respiratorischer, also der Aufnahme über die Atemwege, die ausreichende Menge für einen Erwachsenen. Bei der Aufnahme über die Haut benötigt man etwa eine Zehnerpotenz mehr, also 10 Milligramm. Das sind die Werte, bei denen 50 Prozent der Betroffenen sterben. Wir sprechen in diesem Fall von LD 50, aber das würde jetzt zu weit führen.«
Ein paar Sekunden lang sagte keiner etwas. Die berühmte Stecknadelsituation wurde vom Klingeln des Telefons auf Brandts Schreibtisch unterbrochen. Der stand auf, nahm den Hörer und meldete sich. Außer einem kurzen »Gut« sagte er nichts und legte wieder auf.
»Sie haben die Mutter von Dieter Brill zu Hause abgeholt, jetzt sind die Kollegen mit ihr auf dem Weg hierher.«
Er sah Lenz an.
»Sobald wir hier fertig sind, könnt ihr sie in die Mangel nehmen. Wir müssen wissen, wo die Leiche ist.«
»Machen wir. Aber ich habe noch eine Frage zum Unfallhergang.«
Er schilderte dem Chemiker den Unfall auf der Bergs-häuser Brücke noch einmal in allen Details.
»Meinen Sie, der Tote könnte tatsächlich mit so etwas vergiftet worden sein?«
»Durchaus«, antwortete Kohlmann. »Nach Ihren Schilderungen würde ich sogar davon ausgehen.«
»Haben Sie eine Idee, wie das Gift in seinen Körper gelangt sein könnte?«
»Darüber denke ich nach, seit ich von dem Fall erfahren habe. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass eine einzelne Person von so einem Ereignis betroffen ist, aber wie es aussieht, hat der Täter einen Weg gefunden, es dem Opfer ohne Beteiligung Dritter zu verabreichen.«
»Was passiert mit den Menschen, die nach seinem Tod Kontakt mit ihm hatten?«
»Schwer zu sagen. Da er einige Zeit mit seinem Wagen im Wasser stand, dürfte sich die Konzentration des Soman, wenn es denn anwesend war, deutlich reduziert haben. Eine Gefährdung sollte von dem Leichnam nicht mehr ausgehen, aber eine anstehende Obduktion sollte unter allen Umständen im Labor durchgeführt werden.«
»Man könnte trotzdem feststellen, dass er daran gestorben ist, oder?«
Der Chemiker sah ihn mit gerunzelter Stirn
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