Nervenflattern
an.
»Natürlich kann man das.«
Georg Wissler mischte sich ein.
»Mal angenommen, wir hätten es wirklich mit einer solchen Bedrohung zu tun, was ich noch nicht glauben kann. Was kann man tun, wenn dieses Zeug zum Einsatz gekommen ist?«
»Bestellen Sie Leichensäcke. Viele Leichensäcke. Egal ob Soman oder VX benutzt wird, die Zivilbevölkerung ist nicht zu schützen. Man kann versuchen, kontaminierte Personen mit Atropin zu behandeln, aber das muss sehr schnell gehen. Zusätzlich braucht man Obidoximchlorid, um die Acetylcholinesterase zu reaktivieren. Und zur Prävention sind nur ein Ganzkörperschutzanzug und eine Schutzmaske zu gebrauchen.«
»Aber wie kommt man denn an solche Nervengifte? Das Zeug kauft man doch nicht auf dem Flohmarkt.«
»Dazu brauchen Sie nicht mal auf den Flohmarkt zu gehen, Herr Wissler. Ein Chemiestudent im fünften Semester kann, wenn er die nötigen Gerätschaften und ein kleines Labor zu Hause hat, eine begrenzte Menge dieser Nervengifte herstellen. Dafür muss man kein Spezialist sein. Die Formeln aller dieser Nervengifte sind im Internet frei verfügbar.«
Lenz schüttelte den Kopf. »Unglaublich.«
»Und es war, wenn es sich hier um ein realistisches Szenario handelt, nur eine Frage der Zeit, wann irgendwelche Kriminelle diese Stoffe ins Spiel bringen würden. Ich persönlich hätte eine solche Attacke schon viel eher erwartet, und auch mit anderen Mitteln. Es gibt Kampfstoffe, die sind ebenfalls recht leicht herzustellen, aber zehntausendmal giftiger als VX. Botulinumtoxin zum Beispiel.«
Lenz hatte genug über Nervengifte gehört. Er dankte dem Chemiker und dem Dolmetscher für ihre Erläuterungen, erinnerte beide an die Verschwiegenheitspflicht, bat sie, sich für eventuelle Rückfragen zur Verfügung zu halten, und brachte sie zur Tür.
»Schöne Bescherung«, sagte Wissler, als Lenz sich wieder gesetzt hatte.
»Aber wie gesagt, bis jetzt ist ja noch überhaupt nichts bewiesen.«
Er sah Dr. Driessler an.
»Frau Kollegin«, sagte er »was halten Sie denn von der ganzen Sache?«
»Von was genau, Herr Wissler?«
»Na ja, kann man so einen Brief ernst nehmen?«
»Durchaus. Ich sehe darin sogar ein großes Gefahrenpotenzial. Der oder die Verfasser erscheinen mir nicht sehr berechenbar. Sollten sie wirklich schon einen oder sogar zwei Menschen getötet haben, ist die Schwelle zum Mord bereits überschritten. Das macht sie umso gefährlicher. Außerdem gibt es in dem Schreiben keine Forderungen. Es ist einfach der Hinweis, dass die Polizei oder der Bürgermeister etwas zur Kenntnis nehmen sollen. Da stellt sich die Frage, was eigentlich dahintersteckt. Aber bevor nicht die Leiche von der Bergshäuser Brücke obduziert ist, erscheint wirklich alles möglich.«
»Haben Sie eine Idee, wo man nach dem Verfasser suchen könnte? Wer kommt für so etwas in Frage?«
»Darüber habe ich in den letzten Minuten auch schon nachgedacht, Herr Wissler. Aber nur basierend auf dem, was wir jetzt haben, kann ich dazu keine Aussage machen. Am interessantesten erscheint mir im Moment die Übersetzung ins Englische. Warum tut jemand so etwas? Ist er Deutscher, ist er Ausländer? Und was meint der Verfasser mit dem Hinweis auf die türkische Frau? Viele Fragen, auf die wir noch keine Antwort haben.«
»Wir haben einen Kollegen auf die Sache mit der Türkin angesetzt. Der untersucht alle Todesfälle von türkischen Frauen hier in Kassel, zunächst in den letzten 12 Monaten. Wobei wir natürlich nicht wissen können, ob sich seine Aussage nur auf Kassel bezieht«, erklärte Lenz. Dann sah er auf die Uhr.
»Danke, Frau Driessler. Ich werde mich jetzt auf die Socken machen und Frau Brill zum Aufenthaltsort der Leiche befragen. Sobald ich Näheres weiß, melde ich mich bei Ihnen.«
Er stand auf.
»Gut, dann mache ich mich auch auf den Weg«, meinte Wissler. »Ich warte auf Ihre Erkenntnisse, Herr Lenz.«
Damit war die Sitzung beendet.
9
Lenz und Hain gingen drei Stockwerke abwärts, wo sie Frau Brill in einem der Vernehmungszimmer fanden, flankiert von zwei uniformierten Polizisten.
Sie trug schwarz, auch das Haar war unter einem schwarzen Kopftuch verborgen.
»Guten Tag, Frau Brill«, sagte Lenz. Hain nickte nur kurz mit dem Kopf.
»Guten Tag, Herr Inspektor. Warum bin ich hier? Was werfen Sie mir vor?«
»Zunächst einmal könnten Sie uns erklären, warum Sie uns vorgestern so schamlos angelogen haben, als es um Ihren Sohn ging, aber das stellen wir jetzt zurück. Wo
Weitere Kostenlose Bücher