Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok
Marmor, aber die blaue Farbe und die wie ein feines schwarzes Netz aussehende Maserung gaben dem Material das Aussehen eines Halbedelsteines.) Die Halle jedenfalls war breiter als lang. An einer ihrer Stirnseiten befand sich eine große zweiflüglige Tür, durch die ununterbrochen Leute hereinströmten. Sie waren kostbar, aber nicht eben zeitgemäß gekleidet. Am anderen Ende der von hohen, breiten Säulen gesäumten Halle befand sich ein Podest, auf dem ein Thron stand. Die Gesichter der Menschen waren alle dem Podest zugewandt. Die Leute jubelten und gaben Hochrufe in einer mir unverständlichen Sprache von sich. Doch ihre Begeisterung galt nicht dem jungen König, der auf dem Thron saß (ich nehme an, dass es ein König war, denn er trug eine schlanke, goldene Krone auf dem Kopf), die Hochrufe galten dir, Jonathan.«
»Mir?«
»So ist es.«
»Warum sollte man mir zujubeln? Was glaubst du, soll dieser Traum bedeuten?«
»Ich weiß es nicht, Jonathan, aber ich habe eine Vermutung.« Jonathans Großvater beugte sich vor und sagte leise, so, als würde er ein Geheimnis preisgeben: »Ich glaube, du wirst nicht immer der bleiben, der du heute bist.«
Jonathan erstarrte. Lange schon hatte er über die Ursache seiner Träume nachgedacht. Waren sie vielleicht doch mehr alsdie Wunschbilder seines Unterbewusstseins? Ängstlich fragte er: »Wie meinst du denn das?«
»Nun, die Medizin macht Fortschritte. Als im Februar dieser deutsche Nobelpreisträger, Wilhelm Conrad Röntgen, starb, erinnerte ich mich, dass kaum jemand seiner Behauptung Glauben schenkte, er könnte mit seinen Strahlen durch Wände hindurch sehen. Heute ist es selbstverständlich, mit ihnen in das Innere eines menschlichen Körpers zu schauen und Knochenbrüche und was weiß ich nicht noch alles zu sehen. Wieso soll es nicht eines Tages – mag sein, in nicht allzu langer Zeit – auch möglich sein deine Krankheit zu heilen? Egal, ob nun mein Traum nur das Ergebnis eines lang gehegten Wunsches oder tatsächlich so etwas wie eine Vorahnung ist, er sollte dir und auch mir Mut machen. Warum sollst du nicht irgendwann in naher Zukunft wieder laufen können wie jeder andere Junge?«
Jonathan war ein wenig enttäuscht. Er hatte sich mehr erhofft. Innerlich schalt er sich, so dumm gewesen zu sein. Die Zeit der Wunder war lange vorbei. Mit ruhiger Stimme erklärte er: »Es gab einmal einen Mann, der bat dreimal inständig zu Gott ihn doch von einer Krankheit zu befreien, an der er litt. Gott sagte nur zu ihm: ›Meine unverdiente Güte sei dir genug; denn meine Kraft wird in Schwachheit vollkommen gemacht.‹ Ich glaube, Großvater, es ist wichtig, das zu sein, was man sein kann und nicht nach Zielen zu streben, die für immer unerreichbar bleiben werden. Wenn ich mit dem, was ich habe und was ich bin, Gott diene, dann kann ich die Wahrheit und Macht seiner Worte viel besser unter Beweis stellen, als wenn ich gesund und stark wäre und mir sowieso alles gelänge.«
Lord Jabbok lächelte gerührt. »Ich freue mich, dass du deine Lage so beurteilst, mein Junge. Das klang eben nach einem sehr reifen jungen Mann und nicht mehr nach einem kaum vierzehnjährigen Knaben. Und sagt die Heilige Schrift nicht auch, dass man eine Hoffnung haben solle, als Anker für die Seele? Das darfst du nie vergessen, Jonathan! Die Hoffnung ist ein wichtiges Element im Leben des Menschen. Ohne Hoffnung wäre schon so mancher an einer scheinbar ausweglosen Situation verzweifelt, der Anker der Hoffnung half ihm aber, in diesen stürmischen Zeiten Halt zu finden und schließlich sein Problem zu bewältigen.«
Jonathan nickte. »Ich verstehe, was du meinst, Großvater. Aber du musst dir keine Sorgen machen. Ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben. Die Bibel sagt ja auch: ›Der Lahme wird klettern wie ein Hirsch.‹ Ich glaube fest daran. Aber es kann noch einige Zeit dauern, bis ich das erlebe.«
Der alte Lord Jabbok räusperte sich verlegen. »Du weißt, mein Junge, dass ich mich mein Leben lang nicht viel um diese Dinge gekümmert habe. Aber ich freue mich, wenn du daraus Trost schöpfen kannst. Ich glaube zwar an Gott, aber die Pfaffen haben mich gelehrt vorsichtig zu sein, wenn etwas unter dem Deckmantel der Religion als Wahrheit verkauft wird.«
»Ich bin da genauso vorsichtig«, beeilte sich Jonathan zu versichern. »Denke nur an Mister Garson!«
Lord Jabbok lachte in sich hinein. »Ja, ja, dem alten Garson haben wir’s gegeben – was?«
Auch Jonathan musste lachen. Aber
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