Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok
nach rechts oben durch das Wappen zog, ein Symbol für die treue Unterstützung königlicher Interessen. Beim Betrachten des Claymore achtete Jonathan kaum auf die kunstvolle Verarbeitung des Schwertes, wie etwa die feinen Gravuren auf der langen, blank polierten, zweischneidigen Klinge, die ausladenden, zur Schneide hin geneigten Parierstangen, den mit Elfenbeinintarsien geschmückten Holzgriff oder den in Form eines Rades ausgebildeten Knauf – nein, der Beidhänder diente ihm nur als Anhaltspunkt, um seine Augen fest zu halten, sie nicht ruhelos umherwandern zu lassen. Genauso gut hätte er auf den präparierten Lachs starren können, der ganz in der Nähe an der holzvertäfelten Wand hing.
»Na, mein Junge, was grübelst du vor dich hin?« Jonathans Großvater hatte eine ganze Weile regungslos in seinem ledernen Ohrensessel verharrt und seinen Enkel schweigend beobachtet.
Ein Augenblick verging, ehe Jonathan auf die Frage reagierte. Automatisch antwortete er ebenso leise, fast flüsternd. »Ach, ich habe nur über einen Traum nachgedacht, den ich… heute Nachmittag im Zug gehabt habe.«
Wie der alte Samuel Falter, so wusste auch Lord Jabbok einiges von den Träumen seines Enkels, wenn auch nicht von den jüngsten Ereignissen, die Jonathan in seiner Traumwelt zugestoßen waren. »Träumst du deine Geschichten immer noch so regelmäßig, mein Junge?«
»Manchmal bin ich mir nicht sicher, ob man die Frage nicht umdrehen sollte. Ich meine, ob ich eigentlich noch regelmäßig wach bin. Beim Erwachen denke ich immer öfter, der Traum war die Wirklichkeit und das Wachen ist nur ein vorübergehender, immer seltenerer Zustand.« Jonathan schaute auf seine im Schoß gefalteten Hände herab. »Hast du das auch schon einmal erlebt, Großvater?«
Jonathan befürchtete, der alte Mann könnte lachen. Stattdessen sagte er nachdenklich: »So stark, wie du es beschreibst, habe ich es noch nie empfunden. Aber ich erinnere mich, dass ich – besonders als Kind – auch oft verwirrt aus einem Traum erwachte und erst eine ganze Zeit benötigte, bis ich mich wieder zurechtfand. Erst letztens hatte ich wieder so einen eigenartigen Traum. Manchmal denke ich…« Jonathans Großvater war mitten im Satz in nachdenkliches Schweigen verfallen, so als wäre ihm gerade erst die Unsinnigkeit seines Gedankens bewusst geworden.
»Was denkst du manchmal, Großvater?«
Ein dicker Ast brach mit lautem Knacken im Kamin auseinander, Funken sprühten und für einen Moment war die Aufmerksamkeit des jungen und des alten Jonathan Jabbok abgelenkt.
»Ich überlege, ob Träume Vorahnungen sein können.«
»Vorahnungen? «
»Nun, ich träumte von dir, Jonathan. Aber es war ganz eigenartig. Du warst nicht der Junge, der hier vor mir sitzt.
Und trotzdem weiß ich, dass du es warst. Vielleicht, weil du so aussahst, wie du aussehen könntest, wenn du völlig gesund wärst. Deine dunklen Haare und Augen, deine Nase und das Kinn – all das stimmte. Du warst nur ein wenig älter als jetzt und um einiges größer und kräftiger.«
Jonathan lief ein Schauer über den Rücken. Mit zitternder Stimme fragte er: »Gab es sonst nichts, was dir an mir – ich meine, in deinem Traum – aufgefallen ist? Deine Beschreibung könnte schließlich auf viele zutreffen. Ich finde nichts Besonderes an meinem Aussehen.«
»Du vielleicht nicht Jonathan. Aber ich. Du siehst aus wie dein Vater, als er noch ein Junge war – nur ein wenig schmaler im Gesicht. Aber weil du gefragt hast: Mir ist gerade eben noch etwas in den Sinn gekommen, das mir auffiel.« Der alte Lord lächelte hintergründig.
»Und das wäre?«, fragte Jonathan ungeduldig.
»Du hattest in meinem Traum deine Flöte bei dir. Wo ist sie übrigens? Du spielst doch sonst ständig darauf. Ich habe sie heute noch gar nicht gehört.«
Jonathan stammelte verwirrt, während ihm erneut ein Schauer über den Rücken ging: »Ich muss sie wohl verloren haben. Sie war mit einem Mal verschwunden.« Weitere Erklärungen brachte er nicht hervor.
Lord Jabbok musterte seinen Enkelsohn prüfend. »Du hast sehr an dem Instrument gehangen, nicht wahr?«
Jonathan nickte nur.
Der alte Mann zwinkerte mit einem Auge. »Sei nicht traurig. Ich glaube, ich habe etwas, was dich trösten kann.« Er erhob sich, ging zum Kamin und nahm von dessen Sims ein kleines, poliertes Wurzelholzkästchen. Mit feierlicher Miene ließ er sich wieder in seinen Sessel sinken und beugte sich vor, um den Inhalt der länglichen Schachtel in
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