Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok
für ihn war das Thema noch nicht beendet. »Ich glaube, wenn Vater mich nicht so erzogen hätte, dann würde ich heute anders sein. Ich hätte keine Ahnung, was Gottes Wort wirklich sagt und was die Kirchen daraus gemacht haben.«
Das Gesicht des alten Lord wurde wieder ernst. Die Erinnerung an den quälenden Streit zwischen ihm und seinem Sohn holte ihn wieder ein. Eine bittere Erinnerung – hatte dieser Zwist ihm doch viele gemeinsame Jahre mit seinem einzigen Sohn geraubt. Lord Jabbok seufzte. »Du hast Recht, mein Sohn. Jacob hat seine wenige Zeit gut genutzt. Er hat aus dir einen prächtigen Burschen gemacht, von dem sogar ich noch eine Menge lernen kann.«
»Du sagst, du hättest erkannt, dass die angeblichen Gottesvertreter falsch gehandelt haben. Vater hat das auch. Du hast aber das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Du hast dich von der Kirche abgewandt und dabei auch gleich Gott den Rücken zugekehrt. Letzteres hat Vater nicht getan – und ich bin ihm dankbar dafür.«
Jonathans Großvater holte tief Luft. »Das sind ganz schön dicke Happen, die mein kleiner Enkel einem alten Bären wie mir da zu Schlucken gibt.«
»Ein alter Bär kann ja auch eine Menge vertragen.«
Jetzt konnte der Lord wieder lachen. Ungläubig schüttelte er den Kopf über seinen Enkelsohn, der ihm doch so manches Rätsel aufgab. »Ich glaube, so etwas wie dich gibt es wirklich nur ein einziges Mal.« Dann fügte er hinzu: »Ich habe dir ja schon bei meinem letzten Besuch in Loanhead versprochen mich näher mit deinen Ansichten und Gedankengängen zu befassen. Da du voraussichtlich nicht beabsichtigst bereits morgen wieder abzureisen, werden wir eine Menge Zeit damit zubringen können.«
»Abgemacht?« Jonathan beugte sich vor und hielt dem alten Mann die Hand entgegen.
Der Großvater schlug ein. »Abgemacht!«
Während der folgenden Tage sprachen die beiden viele Stunden miteinander. Manchmal – wenn es gerade nicht regnete – schob der alte Lord seinen Enkel durch den Park, von dem Jabbok House umgeben war, und erzählte von seinen Kindertagen auf dem Familiensitz. Obwohl Jonathan auch schon früher viele Gespräche mit seinem Großvater geführt hatte, waren diese doch anders. Vielleicht lag es daran, dass er inzwischen älter und verständiger geworden war, eben ein gleichberechtigter Gesprächspartner. Das Verhältnis zwischen dem jungen und dem alten Lord war von großem gegenseitigen Vertrauen geprägt – es gab keine Geheimnisse mehr zwischen ihnen.
Doch nicht nur die Gespräche mit dem Großvater hatten für Jonathan einen neuen Stellenwert eingenommen, etwas ganz anderes war nicht weniger ungewohnt für ihn: Er hatte seit einigen Tagen nicht mehr geträumt! Er versuchte sich mit dem Gedanken anzufreunden, den sein Großvater geäußert hatte. Seine Träume waren wahrscheinlich nur dem Wunsch entsprungen ein gesunder Junge wie alle anderen zu sein. Das Verschwinden des langjährigen Traumbruders mochte bedeuten, dass er seinen Zustand auch in seinem Unterbewusstsein akzeptiert hatte und entschlossen war selbst sein Geschick tatkräftig in die Hand zu nehmen.
Das alles klang sehr vernünftig, aber so richtig überzeugt war Jonathan davon noch immer nicht. So saß er an seinem fünften Abend auf Jabbok House im Bett und grübelte darüber nach, was er nun glauben sollte. Da er zu keinem befriedigenden Ergebnis kam, beschloss er sich vor dem Einschlafen etwas abzulenken. Er griff zu der geheimnisvollen Flöte und setzte sie an die Lippen. Das Lied, das er spielte, hatte er schon oft in seinen Träumen gehört. Jonathan spielte es mit Leichtigkeit, als wäre er jener Yonathan aus seinen Träumen.
XI.
Das grüne Wunder
Benebelt
Eine ferne Melodie schwebte durch Yonathans Geist. Sie formte das Bild eines Flöte spielenden Schafhirten, der sehr, sehr weit entfernt war. Die wollenen, weichen Körper seiner Schäfchen schienen den Klang des Instruments noch zusätzlich zu dämpfen. Er fühlte sich beschwingt. Es war ein herrliches Bild – die grüne, hügelige Landschaft, die grauweißen Pünktchen der Schafe darin und der einsame Hirte, der sein schwermütiges Lied spielte –, ein friedliches Bild, bei dem man gerne verweilt.
Jäh stiegen beunruhigende Erinnerungen in Yonathan auf und trübten seine heitere Stimmung. Konnte er sich jetzt wirklich sicher fühlen? War er nicht schuld am Tode Gavroqs, Sethurs Hauptmann? War er nicht geflohen? Hatten Sethurs Krieger ihn nicht mit ihren eigenartig grünen
Weitere Kostenlose Bücher