Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok
blickgünstiger Position, direkt unter Jonathans Nase, enthüllen zu können.
Als Jonathan in das edel aussehende, hölzerne Behältnis lugte, wurde ihm glühend heiß, dann trat ihm kalter Schweiß auf die Stirn und schließlich überkam ihn eine Welle von Übelkeit.
»Ich muss zugeben«, stellte sein Großvater fest – unschlüssig darüber, ob er nun besorgt, enttäuscht oder gar gekränkt sein sollte – »ich habe mir die Reaktion auf meine Überraschung ein wenig anders vorgestellt.«
Jonathan war nicht in der Lage eine Antwort oder gar eine Erklärung abzugeben; er kämpfte noch mit dem Schock. Das Gesicht wie unter Schmerzen verzerrt betrachtete er den Inhalt des Kästchens. Alles hätte er erwartet, aber nicht das – seine Flöte! Nein, nicht seine Flöte, die er im Knabeninternat verloren hatte und die später in seinem Traum wieder aufgetaucht war. Es war zweifelsohne das einfache, aus einem Ahornzweig geschnitzte Instrument Yonathans, seines Traumbruders, das da wie ein Fremdkörper in der kostbaren Schatulle ruhte. Er erkannte es sofort an dem merkwürdigen Schriftzeichen, das aussah wie eine durchgestrichene Eins und das direkt über dem oberen Tonloch eingekerbt war.
»Du bist so weiß wie Ziegenkäse«, stellte der alte Lord fest.Die Sorge um den Enkel hatte die Überhand gewonnen. »Alfred soll dir ein Glas Wasser bringen.«
Jonathan nickte nur.
Wenige Minuten später musterte der Diener den noch immer erbärmlich ausschauenden Knaben. »Was habt Ihr mit ihm angestellt, Euer Lordschaft? Der Junge sieht ja schrecklich aus!«
»Ich?«, entgegnete dieser. »Ich habe ihm ein Geschenk machen wollen. Sonst nichts.«
»Nur ein Geschenk«, echote Alfred. »Es wäre nicht das erste Mal, dass die Geschenke Eurer Lordschaft nicht die ungeteilte Zustimmung des Beschenkten gefunden hätten.«
»Jetzt langt’s aber!«, empörte sich der Lord. »Geh lieber und bring für Jonathan ein Glas Wasser. Er ist krank und hat zudem eine anstrengende Reise hinter sich. Da kann man schon mal ein wenig indisponiert sein.«
Alfred ersparte sich die Antwort. Die Sorge um den Gesundheitszustand des jungen Lords siegte über den Drang noch ein wenig weiterzustreiten.
Als Jonathan sich etwas erholt hatte, fragte ihn sein Großvater: »Was war wirklich los, Junge? Was hat dich an der Flöte so erschreckt?«
Jonathan erzählte von seinen jüngsten Träumen. Vieles war dem Großvater bereits bekannt, so auch die Existenz seines Traumbruders, aber das, was er ihm in der Vergangenheit über seine bewegten Traumerlebnisse erzählt hatte, war nichts im Vergleich zu dem, was er nun berichtete.
»Hm«, grübelte der alte Mann, nachdem Jonathans Bericht geendet hatte, »das ist eigenartig. Aber es könnte eine natürliche Erklärung geben – vielleicht sogar eine, die der meines Traumes ganz ähnlich ist. Früher habe ich oft geträumt, ich würde aus dem Bett fallen und später fand ich mich dann wirklich daneben wieder. Vielleicht spielt dir deine Phantasie hier auch nur einen Streich. Als du deine Flöte verloren hattest, wünschtest du sie dir so sehr zurück, dass du davon geträumt hast. Das ist nichts Besonderes. So was passiert. Diese Flöte hier ist wahrscheinlich derjenigen in deinem Traum sehr ähnlich – übrigens, merkwürdigerweise stammt sie tatsächlich von einem Hirten; du kennst Robert doch, oder? Na, wie auch immer, man sagt jedenfalls, in den Träumen finden sich die Dinge wieder, die uns im tiefsten Innern beschäftigen, die das Unterbewusstsein noch nicht verarbeitet hat. Möglicherweise sind unser beider Träume solchen unbewussten Wünschen entsprungen.« Jetzt erst schien Jonathans Großvater einzufallen, wodurch sich der Ablauf des Abends so überraschend geändert hatte. »Interessiert dich eigentlich noch, wie mein Traum weiterging?«
Jonathans Blick lag auf seiner neuen, alten Flöte, die seine Hände fest umklammert hielten. Es bereitete ihm Mühe seine Gedanken auf einen anderen Gegenstand zu konzentrieren. »Oh, ja, natürlich. Ich verstehe nur noch immer nicht, was dieser Traum mit Vorahnungen zu tun haben soll.«
»Lass mich einfach weitererzählen. Wo war ich stehen geblieben? Ach, ja! Ich sah dich: älter, kräftiger und auf deinen beiden Beinen stehend. Du warst in fremdartige, geradezu altertümliche Gewänder gekleidet und befandest dich in einer großen Halle, die ganz aus blauem, poliertem Gestein bestand. (Ich habe noch nie solche Steine gesehen. Sie erinnerten irgendwie an
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