Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok
Pinsel eintauchte, war bald schwarz wie Kohle. Einmal summte er leise vor sich hin. Als er Pastor Garsons strafenden Blick bemerkte, verstummte er jedoch wieder. Schließlich trocknete er die Farbe, indem er geräuschvoll gegen das Blatt pustete und es hin und her wedelte. Zufrieden betrachtete er sein Werk.
Jimmy, ein Mitschüler mit roten Haaren und Sommersprossen, kicherte, als er über Jonathans Schulter spähte und das Gemälde erblickte. Pastor Garson wurde aufmerksam.
»Wie sieht es aus, Jonathan Jabbok? Bist du fertig mit deinem Bild?«
»Sofort, Sir. Es muss nur noch trocknen.«
»Das kann es auch hier auf meinem Pult. James, bringe bitte das Bild von Jonathan zu mir nach vorne.«
Der Junge, der hinter Jonathan saß, erhob sich von seinem Platz und tat, wie ihm befohlen. Grinsend trug er das Bild zum Lehrerpult. Als Pastor Garson das Kunstwerk in Empfang nahm und begutachtete, schienen seine Augen aus den Höhlen zu quellen.
»Was soll das?«, quiekte er schrill. »Willst du mich zum Narren halten?«
»Wieso?«, fragte Jonathan unschuldig. »Habe ich das Thema nicht richtig verstanden, Sir?«
»Das ist wohl noch die harmloseste Umschreibung für das, was du mir hier abgeliefert hast!« Garson hielt das Bild in die Höhe, sodass alle Jungen es sehen konnten. Ein Raunen und Kichern ging durch den Raum.
»Das Bild ist schwarz. Einfach nur schwarz!«, gellte der Pastor, dem Kollaps nahe. »Das Thema lautete: ›Wie stelle ich mir die Hölle vor?‹ Und was soll das hier sein?«
»Nun, die Heilige Schrift sagt nicht, dass der Mensch eine Seele hat, sondern dass er selbst die Seele ist. Nach dem Tod kann man sie daher auch nicht in einer Feuerhölle quälen, sondern nur in ein dunkles Grab legen. Erst wollte ich das Blatt ja weiß lassen, Sir. Aber dann habe ich mir gedacht, sie würden dies als Arbeitsverweigerung ansehen. Deshalb habe ich es dann schwarz gemalt. Ich glaube«, beglückwünschte Jonathan sich selbst, »dadurch habe ich das Nichts noch viel besser getroffen. Finden Sie nicht auch, Sir?«
Pastor Garson stand da wie versteinert. Er hatte die Augen geschlossen und atmete tief, um sich nicht erneut aus der Fassung bringen zu lassen. Als er Jonathan wieder anschaute, klang seine Stimme trügerisch ruhig. »Die Note, die du für dein Bild bekommst, wird dir meine Antwort geben.«
Zur Schonung seiner angegriffenen Nerven beschloss der Pastor, den Unterricht zu beenden. Jonathan lächelte zufrieden. Alles hatte sich planmäßig entwickelt.
Aber die Sache war für ihn noch nicht ausgestanden.
»Du begibst dich auf deine Kammer. Dort bleibst du, bis Sir Malmek dich rufen lässt.«
Mehr sagte Pastor Garson nicht. Wie die in Marmor gehauene Statue eines dicken Cäsaren stand er neben seinem Pult und zeigte Jonathan, wo sich die Tür befand.
Der tat das Beste, was man angesichts eines solch grimmigen »Feindes« zu tun vermag: Ohne ein Wort des Protestes bewegte er seinen Rollstuhl in die bezeigte Richtung und verließ das Klassenzimmer. Draußen rollte er den Flur entlang zu seinem Zimmer und erst als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, atmete er erleichtert auf.
III.
Der Auftrag
Lemor der Hirte
Kitvar lag an einer Bucht an der Westküste von Neschans Nordregion. Die kleine Stadt war aus einem Fischerdorf erwachsen und sie hatte viel von ihrem ursprünglichen Charakter bewahrt. Einmal im Monat fand hier der Große Markttag statt. Nicht selten verdoppelte sich die Einwohnerzahl Kitvars zu dieser Zeit. Wenn die Händler hier, am Endpunkt der Nördlichen Handelsroute, ihre Waren feilboten, dann strömten die Bewohner der nahen und fernen Umgebung zu Fuß, per Pferd, auf Ochsenkarren, mit Booten oder sonstwie in den kleinen Ort, um all jene Geschäfte zu tätigen, die zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse erforderlich waren.
Zu den lebenswichtigen Bedürfnissen gehörte der oft über viele Wochen angewachsene Durst nach Neuigkeiten. Man musste nur die Ohren spitzen. Nirgendwo funktionierte der Austausch von Informationen schneller und zuverlässiger als auf dem Großen Markttag. Die meisten der in Kitvar verbreiteten Nachrichten bestanden jedoch aus Klatsch und Tratsch, die von den neugierigen Ohren der Marktbesucher aufgesogen wurden wie Wasser von einem ausgetrockneten Schwamm.
So sehr sich die Waren, die während des Großen Markttages gehandelt wurden, voneinander unterschieden, so sehr ähnelte sich immer wieder das Ritual der Geschäftsabwicklung: Es wurde
Weitere Kostenlose Bücher