Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok
Spalte springen, deren Tiefe seine Augen nicht zu ermessen vermochten. Der Anstieg entwickelte sich zu einer Tortur. Der stetige Wind schnappte wie ein bissiger Hund nach seinem Gesicht. Wie gern wäre er nur für einen Augenblick in eines der kleinen Seitentäler abgebogen, in die der eisige Hauch nicht hineinzog. Doch so kämpften sich seine gefühllos gewordenen Füße weiter bergan, durch einen dünnen Schneeschleier, der ohne Unterbrechung talwärts stob. Mit jedem Schritt schien die Kälte unerträglicher zu werden. Der wasserfeste Umhang konnte zwar ausreichenden Schutz gegen den Regen drunten im Wald bieten, die Eiseskälte hier oben aber hielt er kaum ab.
Yonathan fühlte sich schutzlos. Er dachte an Jonathan, seinen Traumbruder. So plötzlich er in Din-Mikkiths Baumhaus aufgetaucht war, so schnell war er auch wieder verschwunden. Ob er ihn in diesem Augenblick beobachtete? Seine Hand wanderte zur Flöte, die um seinen Hals hing.
Schritt um Schritt kämpfte Yonathan sich weiter bergan. Die Ereignisse der letzten Wochen zogen vor seinem inneren Auge vorbei – bis er sich wieder in dem Erdloch sah, in dem er den Stab Haschevet gefunden hatte. Damals bedrohte ihn der Erdfresser, dessen Feindseligkeit er spürte, lange bevor er das Tier gesehen hatte. Genau wie damals in der dunklen Höhle fühlte Yonathan auch hier auf dem glitzernden Gletscher die Nähe des Feindes, eine unsichtbare Bedrohung.
Während er eine weitere Eisplatte passierte, die aufrecht stehend, gleich einem Besansegel, dem Himmel entgegenstrebte, umklammerte er Haschevet noch fester. Den Stab hielt er unter seinem Umhang verborgen, aber es wäre ihm lieber gewesen ihn offen zu tragen, zur Abschreckung der unsichtbaren Feinde (und um auf dem schlüpfrigen Untergrund besseren Halt zu finden).
Für einen Augenblick hatte Yonathan Din-Mikkith aus den Augen verloren, doch jetzt sah er ihn wieder. Der Behmisch schritt gerade durch ein schmales Felsentor. Mitten durch diesen Pfad zog sich die glitzernde Linie eines schmalen, aber reißenden Gebirgsbaches. Dahinter lag das Ziel ihrer langen Wanderung durch das Verborgene Land: das Tor im Süden, die Nüstern oder wie sonst man den Durchgang bezeichnen wollte, der in dem alten Gedicht über die sieben Wächter dieser geheimnisumwobenen Landschaft Neschans beschrieben wurde. Aus ihm leuchtete ein nie gesehener, goldener Glanz.
Er erinnerte sich, diesen Schimmer schon am Tage zuvor über die Hochebene hinweg beobachtet zu haben. Doch jetzt, aus der Nähe, glaubte Yonathan, die Sonne selbst müsse sich als gewaltige Lichtquelle hinter der Felsmauer befinden, deren einzigem Durchlass – einer engen Schlucht zwischen steil aufragenden, bis zum Himmel reichenden Felswänden – er sich nun näherte. Er schien geradewegs auf einen Schmelztiegel zuzugehen, in dem alles Gold Neschans geläutert wurde. Das Gewässer spiegelte diese Farbe wider – ein rauschender Bach dahinfließenden Goldes.
Beim Durchschreiten dieser gewaltigsten aller Pforten vergaß Yonathan Feind und Freund, Kälte und Wind. Er sah nur noch diesen monumentalen Eingang und den unermesslichen Glanz einer Schatzkammer.
Die beinahe senkrechten Felswände zu beiden Seiten Yonathans ließen den Himmel über ihm zu einem schmalen Streifen zusammenschrumpfen. Als er das Ende des Hohlweges erreichte, eröffnete sich ihm ein noch überwältigenderer Anblick. Er stand im Eingang einer gigantischen Rundhalle, der die eben durchschrittene, riesenhafte Pforte angemessen war. Ihre Mauern bestanden aus purem, blank poliertem Gold, mit nahezu ebenem Grund und umkränzt von einer weißen Krone aus ewigem Eis, welche das Dach des Himmels selbst beschirmte.
Während Yonathan in sprachloser Bewunderung vertieft war, legte sich plötzlich mit festem Griff eine Hand auf seine Schulter. Er schrak zusammen. Einen Moment lang hatte er seine Wachsamkeit schleifen lassen und schon…
»Unheimlich, nicht wahr?«, ertönte Yomis Stimme hinter ihm. »So etwas würde mir selbst im Traum nicht einfallen. Nicht in tausend Jahren!«
Yonathan fühlte seine Knie weich werden. Erleichtert stieß er die Luft aus. »Yomi! Wie kannst du mir nur so einen Schrecken einjagen! Ich dachte schon…«
»Dass ich Sethur wäre? Entschuldige bitte, Yonathan, das wollte ich nicht. Aber ich habe selbst ziemliche Angst in der Schlucht gehabt und war froh dich endlich einzuholen. Wo ist Din-Mikkith?«
»Hier bin ich – und macht nicht solchen Lärm!«
Yonathan und Yomi mussten
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