Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok
dem er über die Dinge sprechen könnte, die sein Herz bewegten.
»Das tue ich gerne«, erwiderte er lächelnd. »Komm doch nach dem Unterricht in mein Zimmer. Dann erzähle ich dir alles, was du wissen möchtest.«
Der Nachmittag verging schnell. Jimmy war zwei Stunden lang bei Jonathan und dieser erzählte ihm vieles über die Dinge, die die frommen Geistlichen gerne verschwiegen. Aber nicht nur darüber unterhielten sich die beiden, auch über ihr Zuhause, ihre Eltern und über das, was sie einmal tun wollten, wenn sie erwachsen wären. Danach verabschiedete sich Jimmy und versprach Jonathan ihn bald wieder zu besuchen.
Etwa eine Stunde vor dem Abendessen saß Jonathan abseits im Garten des Internats und schaute abwesend auf die unter ihm liegende Landschaft. Samuel hatte ihn nur widerstrebend dorthin gebracht. Er sah, dass Jonathan den Verlust seiner Flöte noch nicht verwunden hatte. Samuel hasste es, Jonathan in trübselige Gedanken versunken zu sehen.
Hier unter der uralten Eiche war Jonathans Lieblingsplatz. Hier konnte er für sich sein. Von hier aus hatte man einen herrlichen Blick auf die hügelige Landschaft von Loanhead, die durch Hecken und Mauern fein säuberlich in einzelne Felder und Weideflächen aufgeteilt war. In der Ferne sah er eine Schafherde, ein Schwarm kleiner grauschwarzer Punkte, die sich langsam über die Wiesen bewegten. An dieser Stelle hatte er schon oft gesessen, in seinem Rollstuhl, unfähig an dem Spiel der anderen Jungen teilzuhaben. Und oft hatte er dann nach seiner Flöte gegriffen und zu spielen begonnen. Dann scharten sich immer mehrere Jungen um ihn, lauschten seinen Melodien und er war nicht mehr allein.
Doch nun? Nun hatte er nicht einmal mehr dieses Instrument. Während Jonathan so dasaß und grübelte, glitt er ab in seine Traumwelt, zu seinem Traumbruder. Dort konnte er die Flöte noch sehen. Und seit dem Traum der letzten Nacht spürte er, dass ihn noch mehr verband mit diesem Jungen, der sich zwar äußerlich von ihm unterschied, innerlich aber er selbst war, in all seinen Zweifeln und in all seinem Feuer, das in ihm brannte. Jonathan wollte mehr über diesen Traumbruder erfahren und in den folgenden Tagen und Wochen lernte er ihn näher kennen. Die Träume, die folgten, übten einen seltsamen Zauber auf ihn aus – sie waren beängstigend und faszinierend, beunruhigend und begeisternd zugleich, sie weckten in Jonathan den Wunsch, seiner Flöte zu folgen, als ein Wanderer zwischen den Welten.
VII.
Stürmische Zeiten
Eine überwältigende Bekanntschaft
Der erste Morgen an Bord der Weltwind bestätigte die Erwartungen, die der vergangene Abend geweckt hatte: Die See war stürmisch und das gewaltige Handelsschiff bockte wie ein junger Hengst beim Zureiten. Angesichts des undurchdringlichen Himmelsgraus fragte sich Yonathan, ob wohl seine ganze Reise so verlaufen würde. Seltsam, dachte er, dass man bei Sonnenschein glaubt, dieser könne durch nichts vertrieben werden, bei schlechtem Wetter aber immer schnell den Eindruck gewinnt, es hätte niemals besseres gegeben und es würde auch immer so bleiben.
Er hatte sich fest in seinen Mantel gehüllt, der aus grauem Leinen bestand und mit Bienenwachs behandelt war, um die Nässe abzuhalten. Den Stab Haschevet trug er in einem Köcher unter dem Mantel.
Gleich nach dem Frühstück war er an Deck gegangen. Die raue See störte ihn wenig. Im Vergleich zur Weltwind war Navrans kleiner Segler eine Nuss-Schale und trotzdem hatte Yonathan darin schon heftigere Stürme überstanden.
Er klammerte sich an eine der Wanten, mit denen der Fockmast verspannt war, und starrte auf die bewegte Gischt hinaus, als Hardor sich zu ihm vorarbeitete und rief: »Der Kapitän bittet Euch dringend unter Deck zu gehen. Das Meer ist unberechenbar und er befürchtet, Ihr könntet über Bord gespült werden. Ich glaube, das wäre ihm sehr unangenehm.«
»Richtet dem Kapitän aus, er brauche sich nicht zu sorgen«, brüllte Yonathan durch den Lärm der anrollenden Brecher zurück. »Ich bin solch ein Wetter gewohnt und werde schon auf mich aufpassen.«
Hardor machte ein missmutiges Gesicht. »Kapitän Kaldek sagte mir, es sei meine Aufgabe, Euch von hier oben wegzuschaffen. Ich fürchte, er wird nicht sehr nett zu mir sein, wenn ich ohne Euch nach unten komme.«
Mit einem resignierten »Also gut«, das der Seemann ohnehin nicht verstand, folgte Yonathan diesem bis zur Kajüte des Kapitäns. Er wollte nicht, dass Hardor
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