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Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok

Titel: Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Jabbok. Abgesehen von dem gemeinsamen Vornamen war die Flöte das einzig Fassbare, das ihn mit seinem zweiten Ich verband – jedenfalls dachte er das noch, als er, von dem Licht des frühen Morgens geweckt, über den Verlauf seines Traumes nachgedacht hatte.
    Eigentlich war er sich sicher, dass die Flöte in der Schublade des kleinen Tischchens liegen musste, das unmittelbar neben seinem Bett stand. Dort bewahrte er sie immer auf.
    Doch da war sie nicht mehr!
    Auch in keinem anderen Winkel seines Zimmers war das für ihn so kostbare Instrument zu finden. Vielleicht hatte man es ihm gestohlen. Doch wer sollte so etwas tun? Samuel gewiss nicht. Und die anderen Jungen hatten entweder eigene Instrumente oder waren am Musizieren nicht interessiert. Oder war es vielleicht aus reiner Bosheit entwendet worden? Nein! Die meisten konnten mit ihm, dem Einzelgänger, zwar nicht sehr viel anfangen, aber ihn bestehlen – das würden sie bestimmt nicht tun.
    Das Frühstück im Speisesaal schien Jonathan heute noch trostloser als sonst. Die gewohnte Stille, von Sir Lucius Malmek überwacht, war wieder eingekehrt – nicht das spannungsgeladene, knisternde Schweigen des gestrigen Tages, in dessen Mittelpunkt Jonathan, der Zweifler, der Rebell gegen die Lehrerschaft, gestanden hatte.
    Zwar waren auch an diesem Morgen noch viele neugierige Blicke auf Jonathan gerichtet. In diesen stand jedoch nicht mehr Mitleid oder Schadenfreude, sondern Bewunderung und Sympathie geschrieben. Immerhin war Jonathan mit heiler Haut, ja, in äußerst guter Verfassung dem Zorn Sir Malmeks entgangen. Das Frühstück verlief heute sogar ohne die spitzen Bemerkungen, mit denen Sir Malmek seine Opfer stets an die Wichtigkeit von Disziplin zu erinnern wusste. Die Jungen fragten sich, wer am Vortage als Sieger aus der Auseinandersetzung hervorgegangen war: Sir Malmek oder Jonathan? Da Jonathan zunächst mit seinem Großvater (was freilich niemand wusste) für den Rest des Tages von der Bildfläche verschwunden war, hatten einige schon das Schlimmste vermutet. Umso größer war die Verwunderung, als Jonathan im Frühstückssaal auftauchte und scheinbar ungerührt, höchstens etwas mürrisch über den Verlust seiner Flöte, seinen ihm angestammten Platz am vorderen Ende der Tafel einnahm.
    Jonathan schaute appetitlos kauend aus dem Fenster und grübelte darüber nach, wo sein Instrument geblieben sein könnte. Der Himmel jenseits der Fensterscheiben konnte seine melancholische Stimmung kaum heben; noch immer türmten sich bleigraue Wolken auf, vergeblich darum bemüht, dem aufgefrischten Wind Widerstand zu leisten.
    Der Unterricht brachte etwas Abwechslung, obwohl seine Gedanken immer wieder abschweiften. Er fragte sich, warum gerade in dem Augenblick, in dem ihm seine Flöte abhanden kam, diese in seinem Traum auftauchte. Schließlich sagte er sich, dass er sie wohl verlegt haben musste.
    In der Pause wurde Jonathan von Jimmy angesprochen. Das war der Junge, durch dessen Kichern Pastor Garson auf Jonathans bildnerische Interpretation der Hölle aufmerksam gemacht worden war. Jimmy – eigentlich hieß er James Horacio und war der junge Earl of Balmoral – entschuldigte sich für sein Gekicher und wollte wissen, was sich gestern in Sir Malmeks Zimmer zugetragen hatte.
    »Nichts Besonderes«, sagte Jonathan schulterzuckend. »Mein Großvater war da und hat mit Sir Malmek und Sir Garson gesprochen. Sie kamen darin überein, mich künftig vom Religionsunterricht zu befreien.«
    Jimmy schaute Jonathan ungläubig an. Er mochte zuweilen etwas naiv erscheinen, aber mit dieser einfachen Erklärung ließ sich der junge Earl nicht abspeisen. Er gehörte zu den wenigen Mitschülern, mit denen Jonathan einen etwas engeren Kontakt pflegte und kannte daher dessen gelegentliche Wortkargheit. »Du meinst, ihr habt nur miteinander gesprochen und schon war die ganze Sache erledigt?«, erkundigte sich Jimmy zweifelnd.
    »Mein Großvater hat natürlich die richtigen Argumente gefunden«, bemerkte Jonathan gelassen.
    »Hm«, gab Jimmy wenig zufrieden zurück. Nach einer Pause fügte er hinzu: »Könntest du mir ein wenig mehr darüber erklären, was die Bibel wirklich über die Hölle sagt? Du hast über Dinge gesprochen, die mir völlig fremd waren. Ich habe kaum ein Wort davon verstanden.«
    Diese Worte ließen Jonathans Widerstand dahinschmelzen. Er freute sich über die Aussicht vielleicht endlich jemanden gefunden zu haben – abgesehen von Samuel Falter natürlich –, mit

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