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Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok

Titel: Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Reise? Aber vielleicht war es auch anders gewesen. Schließlich gab es eine Macht im Universum, der sich selbst die Zeit unterordnen musste, und der Inhaber dieser Macht wusste im Voraus, wie sich die Dinge entwickeln würden. Daher konnte er auch Maßnahmen ergreifen, die die Verwirklichung seines Plans sicherstellten, eines Planes, in dem Yonathan nur ein winziges Werkzeug war, ein Staubkorn in der Unendlichkeit.
    Kaum hatte Yonathan seine wenigen Habseligkeiten in der Kammer verstaut, da ging ein Knarren durch die Weltwind, das an Kapitän Kaldeks Stimme erinnerte; die Leinen waren losgemacht worden und das Schiff kam schwerfällig in Bewegung. Yonathan lief eilig an Deck, um einen letzten Blick auf Kitvar zu erhaschen. Auf dem Oberdeck angekommen, lehnte er sich auf die Reling und beobachtete das Schauspiel, dem er schon so oft von der anderen Seite, von der Pier aus, zugeschaut hatte. Da der Wind auflandig wehte und die große Weltwind in dem kleinen Hafen von Kitvar keine Möglichkeit hatte, gegen den Wind zu kreuzen, wurde sie von vier Schleppbooten, von denen jedes mit zwölf Ruderern besetzt war, zunächst bis weit hinter die Hafeneinfahrt gezogen.
    »Hoffentlich dreht sich bald der Wind«, sagte ein junger Mann, der sich nicht an dem emsigen Treiben beteiligte, das sich überall an Bord entfaltet hatte.
    Yonathan, ganz durch seine Abschiedsstimmung in Anspruch genommen, bemerkte erst jetzt, dass er einen Mitbeobachter hatte. Er drehte sich um und blickte in ein knabenhaftes Gesicht, das gar nicht so recht passen wollte zu diesem hoch geschossenen Kerl mit den viel zu langen Armen und Beinen.
    »Meint Ihr, unsere Reisezeit würde dadurch wesentlich verlängert?«, fragte Yonathan.
    »Ich denke schon«, antwortete der junge Mann. »Wir müssten bis zur Westküste des Verborgenen Landes ständig hart am Wind segeln. Außerdem könnte der Wind in Sturm umschlagen. Wir könnten ein paar ziemlich unangenehme Tage erleben.«
    Die Segel der Weltwind waren jetzt gehisst. Auf jedem der großen, weißen Rahsegel prangte ein leuchtend roter Drache, der dem Schiff die Kraft, die Schnelligkeit und die Unbesiegbarkeit dieses Fabelwesens verleihen sollte. Die Maße der Segel waren atemberaubend. Man hätte darin sämtliche Waren des Großen Marktes von Kitvar einpacken können.
    Die Häuser des Städtchens wurden immer kleiner. Einmal glaubte Yonathan einen hellen Punkt im Norden Kitvars erkennen zu können, dort wo sich das Haus Navrans befand. Aber eigentlich war das Schiff schon viel zu weit vom Land entfernt. Was würde Navran wohl jetzt gerade tun? Vielleicht saß er auf der kleinen Bank vor dem Haus und sah die Segel der Weltwind in der Mittagssonne blitzen.
    Yonathan blieb noch bis zur Abenddämmerung an Deck. Zwei Gefühle kämpften in ihm: der Abschiedsschmerz und der Reiz des Neuen, Unbekannten, das vor ihm lag. Als von Kitvar schon längst nichts mehr zu sehen war, sog er tief die frische Meeresluft ein und blickte erwartungsvoll in den dunkler werdenden Himmel. Die untergehende Sonne lugte in tiefrotem Glanz noch ein letztes Mal über den unendlichen Horizont. Dann verschwand sie.
    Nach einem kurzen Abendessen mit dem Kapitän entschuldigte sich Yonathan und begab sich in seine Kajüte. Noch lange lag er im Dunkeln auf seinem Lager und dachte an Kitvar, an Navran Yaschmon und an das Häuschen oben auf den Klippen. Dann nahm er die Flöte zur Hand, die ihm so fremd und doch so eigenartig vertraut war, und spielte ein melancholisches Lied, das Lemor, der Hirte, ihm einst beigebracht hatte. Die Melodie hallte in seinem Geist nach, so, wie man die ausgeblasene Flamme einer Kerze in einem finsteren Raum noch eine Weile zu sehen glaubt. Vor seinen Augen tauchte ein Bild auf: ein blass aussehender Junge, etwa so alt wie Yonathan selbst, der auf einem sonderbaren Stuhl mit Rädern statt Beinen saß. Der Junge befand sich im Schatten einer uralten Eiche und schaute träumerisch über eine hügelige Landschaft, die durch Hecken und Mauern in einzelne Felder und Weideflächen aufgeteilt war. In seiner Hand hielt er eine Flöte.
    Seine, Yonathans, Flöte!
    Seine Flöte?
     
     
     

VI.
Wanderer zwischen den Welten
     
    Jonathan hatte den Rollstuhl in jede Ecke seiner kleinen Kammer bewegt, um die Flöte zu finden, ebenjenes Instrument, das er in seinem jüngsten Traum wieder erkannt hatte. Die beiden Schriftzeichen, die für seinen Traumbruder ein Rätsel darstellten, waren Jonathans Initialen: »JJ« für Jonathan

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