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Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok

Titel: Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Tausende von Knospen, die schnell an Größe zunahmen. Als die ersten dieser Auswüchse zu unregelmäßig gezackten Blättern aufsprangen, hatte sich der neugierige Ast bereits bis auf Armeslänge genähert.
    Schon bald bildete die Baumkrone ein dichtes Blätterdach, das den wolkigen Himmel verdeckte. Das Blattwerk sah genauso grau und trostlos aus wie das vertrocknete Laub auf dem Boden, und Yonathan fühlte, dass sich daran selbst im hellsten Sonnenschein nichts ändern würde. Ja, er war sich jetzt sicher, dass die verrotteten Blätter unter dem Baum nicht seit Tagen oder Wochen dort lagen – sie entstammten der letzten Nacht!
    »Du bist ein kluges, kleines Bürschlein«, schwebte plötzlich eine sanfte Stimme durch Yonathans Geist.
    Im Schlaf zuckte er zusammen. Wo kam diese säuselnde Stimme her? Ähnliches hatte er noch nie gehört. Selbst Sethurs drohende Stimme in den Köpfen der Weltwind-Besatzung war mit diesen geflüsterten Worten nicht zu vergleichen. Gedankenfetzen wirbelten wie trockenes Laub durch Yonathans Geist, während er nach dem Rätsel seiner seltsamen Wahrnehmung forschte.
    Er hatte eigentlich gar keine richtigen Worte gehört. Vielmehr bediente sich die einschmeichelnde Stimme seiner Gefühle und Vorstellungen, um gleichsam Bilder in seinen Geist zu malen. Das, was zu ihm sprach, benutzte keine Worte.
    Doch was hatte da zu ihm gesprochen? Sein Gefühl (oder war es das Koach?) sagte ihm, dass der Baum zu ihm sprach, aber das wollte er nicht glauben. Wie konnte ein Baum sprechen?
    »Nun, ich kann es«, antwortete die Stimme in seinem Geist.
    »Wer bist du?«
    »Ich bin dein Freund.«
    Obwohl die Stimme unverändert ruhig erschien, bemerkte Yonathan in ihr doch etwas Lauerndes, Abschätzendes, das ihn an einen Luchs erinnerte, der sich vorsichtig an sein Opfer heranpirschte, um es überraschend zu schlagen.
    »Warum bist du so misstrauisch?«, fragte die Stimme. »Du kannst mir vertrauen.«
    »Warum schleichst du dich in meine Träume, wenn du nichts Böses im Schilde führst?«
    »Dies ist nun mal meine Zeit; am Tage ruhe ich«, antwortete die Stimme freundlich. »Du bist einfach zu schnell eingeschlafen, als dass ich dich früher hätte ansprechen können.«
    »Vielleicht ist der Grund auch ein ganz anderer«, antwortete Yonathan argwöhnisch. »Du weißt, dass unsere Körper nicht weglaufen können, wenn sie schlafen.«
    »Das könnten sie auch nicht, wenn sie wachen würden«, entgegnete die Stimme mit gleichmütiger Sanftheit.
    Etwas in Yonathan schlug Alarm. Er schaute an sich hinunter und machte eine erschreckende Entdeckung: Der Ast, der ihn zuvor so aufmerksam gemustert hatte, träufelte nun eine harzig klebrige Flüssigkeit auf seinen Körper. Gleichzeitig lösten sichvon den sich windenden Ästen immer mehr Blätter und blieben an ihm haften. Yonathan wurde verpackt, wie er zu seinem Entsetzen feststellte. Bis zu den Oberschenkeln war er bereits eingehüllt in seinen Kokon aus Blättern.
    »Was hast du mit uns vor?«, schrie Yonathans Geist dem Baum entgegen.
    »Bei mir müsst ihr weder hungern noch frieren, meine kleinen Freunde. Die Blätter werden euch warm halten und meine Früchte werden euch sättigen. Ich werde mich um euch kümmern, als wäret ihr meine eigenen Sprösslinge.«
    Ein Blick zu Yomi zeigte Yonathan, dass es dem auch nicht besser erging. Langsam hatte er die Nase voll von diesem Traum. Wenn er nur erwachen könnte, um sich und den Freund von diesen klebrigen Fesseln zu befreien! Aber es gelang ihm nicht.
    Wie ein Bienenschwarm kreisten die letzten Worte des Baumes in Yonathans Kopf herum. »Meine Früchte werden euch sättigen«, hatte er gesagt.
    Yonathans Augen – im Traum körperlos und unbehindert – schweiften abermals zum Freund hinüber. Gerade hielt ein Ast wie mit Fingern Yomi die Nase zu, der daraufhin den Mund öffnete. Gemächlich und zielstrebig senkte sich daraufhin ein weiterer Zweig mit einer länglichen Frucht über Yomi hinab, der verzückt dreinschaute, als erwarte er eine kostbare Gabe. Jeden Moment konnte sich die Frucht zwischen Yomis Zähne schieben.
    »Halt, Zephon!«, schrie Yonathan hinaus und fast augenblicklich spürte er, wie eine unsichtbare Fessel sich löste und er erwachte. Aber dieses Erwachen war schlimmer als der Traum. Alles war tatsächlich geschehen. Bis zur Hüfte klebten die fein gezackten Blätter an seinem Körper und verhinderten, dass er aufspringen und davonlaufen konnte.
    Auch Yomi war erwacht, war aber bereits bis

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