Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok
dieser grauschwarze Baum in seinem trostlosen Bett aus Felsen, Geröll und bleichem Sand erwachte, wollte Yonathan jedenfalls nicht dabei sein – dessen war er sich sicher.
Yomi hatte sich bereits auf den Weg zu der Stelle gemacht, wo der abwärts geneigte Felsvorsprung in den Krater hinabführte. Yonathan schüttelte seine düsteren Gedanken ab und folgte ihm. Yomi hatte ja Recht, sie mussten ein Lager finden, bevor es stockfinster geworden war, und dieser Platzdort unten würde wahrscheinlich noch das geringste aller Übel sein.
Yonathan holte seinen Freund am oberen Teil der Rampe ein, sodass sie gemeinsam in das Erdloch hinabsteigen konnten. Jeder Schritt erforderte große Vorsicht, da Sand und Geröll den Abstieg schnell in eine gefährliche Rutschpartie verwandeln konnten.
Kurz vor dem Ende der Rampe hielt Yonathan plötzlich inne. Seine Augen hatten in dem schnell schwindenden Tageslicht etwas Ungewöhnliches entdeckt. »Yomi, warte mal«, raunte er seinem Freund zu. »Hast du dir mal genau angesehen, worauf wir laufen?«
Yomi wusste nicht, worauf Yonathan hinauswollte. »Ich sehe nur, dass hier festes Gestein unter dem Geröll hervorschaut.«
»Ja schon, aber fällt dir nichts an der Form dieser Felsen auf?«
Yomi runzelte die Stirn, ließ sich auf ein Knie nieder und fegte mit der Hand etwas von dem Sand und den kleinen Steinen weg, die den ganzen Weg bedeckten. »Das ist ja… ungeheuer…«Ihm wollte kein passender Ausdruck einfallen.
»Wir sind offensichtlich nicht die ersten mit Verstand begabten Wesen, die in dieses Loch hinabsteigen – oder wie würdest du sonst erklären, dass wir hier auf einer Treppe stehen?«
Yonathan und Yomi saßen Seite an Seite inmitten des Kraters. Mit dem Rücken lehnten sie an dem verdorrten Baum und schauten zu der Stelle empor, wo der rampenartige Felsvorsprung in den flacheren Abhang überging. Jeder hielt ein Stück Käse mit Brot in der Hand und sie kauten gedankenverloren.
»Wie lange wird es wohl schon her sein, dass Menschen hier gelebt haben?«, brach Yomi das Schweigen.
»In der ersten Rolle des Sepher Schophetim wird berichtet, dass Melech-Arez einst versuchte verständige Wesen zu erschaffen. Er wollte, dass diese ihm und seinen Brüdern ähnlich seien.
Aber das schlug fehl. Seine Geschöpfe waren boshaft, geradezu fürchterlich. Vielleicht wurde Melech-Arez anfangs noch von dem Wunsch getrieben seinem Vater, dem Schöpfer des unermesslichen Universums, nachzueifern, aber schon bald waren es nur noch Eifersucht und Selbstüberschätzung, die sein Handeln bestimmten. Er wollte selbst angebetet werden, so, wie es seine Brüder mit ihrem Vater taten.«
Yomi nickte. »Ich erinnere mich.« Dann hob er die Hände in die Höhe. »Aber ich verstehe immer noch nicht, was diese Legende mit der Treppe dort drüben zu tun haben soll.«
»Nun, das Buch Yenoach berichtet weiter, dass Melech-Arez seine Geschöpfe in ein Land setzte, in dessen Mitte ein Baum stand, den sie verehren sollten. Dieser Baum hatte den Namen Zephon. Einmal im Jahr musste jeder Bewohner von den Früchten dieses Baumes essen. Ihnen wurde erzählt, Zephon würde sie ihrem Gott, Melech-Arez nämlich, näher bringen und sie mit ihm im Geiste vereinen. In Wirklichkeit war der Baum eine Droge, die jeden, der vom seinen Früchten kostete, zum willenlosen Diener Melech-Arez’ machte. Das Land, in das dieser selbst ernannte Gott seine Geschöpfe gesetzt hatte, war geschlossen – niemand konnte es verlassen und niemand konnte dem Einfluss des Baumes entkommen. Wenn das Volk der Sklaven Melech-Arez’ so weit gewachsen wäre, dass das Land es nicht mehr fassen könnte, sollte es – die Priester mit den Samenkapseln Zephons an ihrer Spitze – in alle vier Himmelsrichtungen ausziehen, um ganz Neschan zu bevölkern. Wo immer sie sich niederlassen würden, sollten Schößlinge Zephons gezogen werden, sodass die angeblich heilige Handlung des alljährlichen Früchteessens auch dort fortgeführt werden konnte.«
»Dazu kam es aber nie«, warf Yomi ein.
»Genau. Yehwoh duldete nicht länger, dass Melech-Arez’ Kreaturen gezwungen wurden, einem selbst ernannten Gott zu dienen. Er setzte mit Yenoach seinen ersten Richter auf Neschan ein. Obwohl auch dieser nur ein unvollkommener Mensch war, entsprach er doch in vielem dem Bild der Makellosigkeit, das Melech-Arez vergeblich zu verwirklichen versucht hatte. Außerdem nahm Yenoach den Fluch des Baumes Zephon von dem Volk – kurz bevor die Priester des
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