Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok
bedrückende Stille ein. Die hölzernen Tentakel hingen erstarrt in der Luft. Yomi, der sich inzwischen auch von dem klebrigen Blattwerk befreit hatte, hielt inne und schaute gespannt zu Yonathan. Auch der verharrte in seinen Bewegungen. Er glaubte sein Herzschlag müsse noch in einer Meile Entfernung zu hören sein. Würde sein Plan gelingen?
Plötzlich traf ihn eine Woge von Gefühlen, die ihn fast umwarf. Noch nie hatte er so stark die Empfindungen eines anderen Wesens zu spüren bekommen. Eine Welle von Verzweiflung, Zorn, Wut und Enttäuschung brach über ihn herein. Gleichzeitig begann der Baum zu zittern. Erst war es nur ein Vibrieren der äußersten Astspitzen; dunkle, lederartige Blätter taumelten zu Boden. Dann setzte sich das Zittern in den dickeren Zweigen fort, bis zuletzt selbst der Stamm von Zuckungen geschüttelt wurde. Blätter und Früchte fielen herab. Die Glocke, die Yonathan und Yomi gefangen gehalten hatte, verlor die Form. Zweig um Zweig hob sich vom Boden, wand sich ziellos und unter Schmerzen.
Endlich hatte Yonathan seine Füße von den Fesseln Zephons befreit. Er sprang zu Yomi und half diesem ebenfalls freizukommen. »Komm!«, rief er seinem Freund zu. »Wir müssen hier fort, sonst werden wir zuletzt noch von einem Ast getroffen und alles war umsonst.«
Yomi nickte nur, und sich gegenseitig stützend stolperten die beiden auf eine etwa sechs Fuß breite Lücke in den lebenden Käfigstreben zu. Immer wieder mussten sie peitschendenÄsten ausweichen. Gerade waren sie durch den Spalt ihres Gefängnisses gestürzt, als sich dieses hinter ihnen schloss. Yonathan und Yomi drehten sich nicht um, sondern rannten so schnell sie konnten auf die Rampe zu, die aus dem Krater herausführte. Gemeinsam hasteten sie den unsicheren und in der Dunkelheit schwer zu erkennenden Pfad empor. Sie machten erst Halt, als sie die Böschung des oberen Kraterrandes erreicht hatten. Atemlos ließen sie sich auf die Knie fallen, stützten die Hände auf die Oberschenkel und pumpten sich die schwüle Nachtluft in die Lungen. Aus dem Krater drangen Klagelaute an ihr Ohr, wie sie sie nie zuvor vernommen hatten.
Nach einiger Zeit keuchte Yomi: »Du bist aus der Reihe gekommen. Du hast mir doch erst vor ein paar Stunden das Leben gerettet – jetzt wäre ich eigentlich an der Reihe gewesen. Ich finde das ziemlich unfair.«
Yonathan fing an zu kichern und bald konnten sie sich beide nicht mehr halten vor Lachen.
»Was meinst du, wollen wir noch ein paar Meilen zwischen uns und diese Pflanze da bringen?« Yomi deutete mit dem Kopf in die Richtung des zuckenden, klagenden Baumes.
»Ich glaube, ich könnte jetzt sowieso nicht schlafen. Im Wald mögen zwar auch Gefahren lauern, aber die sind mir tausendmal lieber als das gemütlichste Lager in Blick-und Hörweite Zephons.«
Yomi nickte. »Außerdem kann man nie wissen, zu was er noch fähig ist. Nach allem, was ich erlebt habe, würde ich ihm zutrauen, aus dem Loch da hochzukrauchen und uns zu verfolgen.«
Yonathan lief ein Schauder über den Rücken. Er schüttelte sich und sagte: »Komm, lass uns gehen.«
Erst nach etwa drei Stunden hielten Yonathan und Yomi auf einer kleinen, moosbedeckten Lichtung an, um für den Rest der Nacht zu rasten. Bis dahin waren sie schweigend durch den Wald gewandert. Kaum hatten sie ihn betreten, hatte erneut der wohlvertraute, in dicken Tropfen niederprasselnde Regen eingesetzt. Wie schon vorher, in dem lichtlosen Höhlenpfad des Ewigen Wehrs, hatten sich die beiden Freunde auch diesmal durch ein Seil aneinander geknüpft und Yonathan ging voran, den Stab in der Hand.
Der Wald war voller Geräusche. Viele Tiere, die sich tagsüber in Höhlen, Dickichten oder in den unzugänglichen Baumkronen verborgen hielten, waren jetzt auf Futtersuche. Für Yonathan und Yomi war es ein nervenaufreibender Marsch. Nach allem, was sie erlebt hatten, hätte sie der Überfall eines hungrigen Raubtieres kaum noch überrascht.
Doch es geschah ihnen nichts. Da sie ihre Decken beim plötzlichen Aufbruch aus dem Krater liegen gelassen und nur mit einem raschen Griff die provisorischen Rucksäcke gerettet hatten, mussten sie sich ein Nachtlager aus Farnblättern zusammentragen. Doch kalt war es ohnehin nicht und der Untergrund bot eine weiche, bequeme Lagerstatt. Selbst der Regen zeigte ein Einsehen mit den beiden ausgelaugten Wanderern und versiegte auf dem letzten Stück des Weges. Unter anderen Umständen wären dies günstige Voraussetzungen für einen
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