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Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok

Titel: Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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zu den Schultern gefesselt. Gerade hatte der Baum die Nase seines Gefährten losgelassen und nur einen Herzschlag später auch die Frucht. Zum Glück hatte Yomi ärgerlich den Kopf zur Seite gedreht und so verfehlte die Frucht seinen Mund und traf stattdessen das Ohr. Durch die Wucht des Aufpralls platzte die Samenkapsel auf und ein zäher Brei verteilte sich auf Yomis linker Gesichtshälfte. Erst jetzt bemerkte er seine eingeschränkte Bewegungsfreiheit und schaute sich nach Yonathan um.
    Der hatte seinen Schrecken jetzt überwunden und ärgerte sich über seine eigene Dummheit – hatte doch Yomi gesagt, dass dieser Baum Zephon sein könnte und er, Yonathan, hatte das als dummes Gerede abgetan. Aber Yomi hatte Recht gehabt.
    Dies war Zephon oder zumindest einer seiner Nachfahren. Jetzt war nicht die Zeit, darüber nachzudenken. Zwar war ihrem Widersacher eine starke Waffe entrissen – der Dämmerzustand, der sie wehrlos gemacht und der wohl kein natürlicher Schlaf gewesen war – aber noch lagen sie gefangen unter dem zitternden Astwerk.
    Yonathan griff nach dem Stab Haschevet und nahm ihn fest in beide Hände. Vermutlich lag es am Stab, dass Zephon sich mit der »Verpackung« Yonathans schwerer getan hatte als mit der seines langen Freundes. Nur lag er zu weit vom Stamm entfernt, als dass er Haschevet einfach in diesen hätte hineinbohren können. Mit einigen kurzen Hieben vertrieb er den Ast, der ihn in diese bedrohliche Situation gebracht hatte und sich jetzt eilig zurückzog. Gleichzeitig schrie er zornig: »Was willst du von uns, Zephon? Was soll dieses ganze Gerede von Fürsorge, Freundschaft und so weiter?«
    Obwohl für Ohren unhörbar, verstanden die beiden Freunde sehr gut, was Zephon erwiderte.
    »Der Stab in deinen Händen stammt von meinem Erzfeind. Vor langer Zeit – selbst für einen Baum – hat dieser mich getötet. Doch ich bin wieder auferstanden, ich bin wieder da, um meinem Gebieter zu dienen.«
    Während er mit Zephon sprach, zupfte Yonathan hastig die klebrigen Blätter von seiner Kleidung. Dabei bemerkte er, wie sich die Zweige des Baumes gleich einer großen Glocke über ihn und Yomi herabsenkten. Er würde sich einer List bedienen müssen, um sich und seinen Freund aus diesem Käfig zu befreien.
    »Der echte Zephon ist tot!«, rief er. »Außerdem bin ich nicht der, für den du mich hältst. Ich sage noch mal: Wir haben keinen Wert für dich. Lass uns ziehen!«
    »Ich weiß genau, wer du bist. Du kannst mich nicht täuschen. Bleibt ruhig liegen, ihr beiden kleinen Menschlein. Gleich werdet ihr glauben, dass ich Zephon bin und unser gemeinsamer Gebieter Melech-Arez ist, der Herr Neschans und der Herr des Universums.« Gleichmütig fügte er hinzu: »Es hat keinen Zweck, mit dem Stab auf mich loszugehen. Er kann mir nur schaden, wenn er mein Herz trifft – und wo das ist, weißt du nicht.«
    Der glockenförmige Ring aus Ästen zog sich immer enger um die beiden Gefährten. Yonathan ging zum Frontalangriff über.
    »Auch du kannst mich nicht täuschen, du verkümmertes Nachtschattengewächs. Du bist nicht der wirkliche Zephon. Du bist sein missratener Spross, der nur des Nachts seine unansehnlichen Blätter zeigt, weil er sich tagsüber mit keinem mickrigen Schachtelhalm messen könnte.«
    »Gib es auf, Menschlein. Du kannst mich nicht reizen«, antwortete der Baum.
    Yonathan fühlte, dass Zephon log. »Melech-Arez hat sich längst andere Diener gesucht«, stichelte er weiter. »Oder warum denkst du, stehst du seit Tausenden von Jahren hier herum, ohne dass er jemanden schickt dich wieder zu beleben? Nein, mach dir keine Hoffnungen. Selbst, wenn du uns in deine Gewalt bringst, wird dir dies nichts nützen. Du hast deine Diener verloren. Deine Kinder haben dich verlassen. Egal, was mit uns passiert, du hast Melech-Arez enttäuscht. Und wer sich einmal sein Missfallen zugezogen hat, kann es nicht mehr wiedergewinnen. Du wirst in diesem verschlossenen Land eingesperrt bleiben – allein! – bis die Welt ihren Namen ändert; und mit dem alten Namen wirst auch du vergehen.«
    Yonathan hatte alle Überzeugungskraft in seine Worte gelegt. Den Stab Haschevet mit beiden Händen fest umklammert, hatte er versucht sich auf die Sprache des Baumes einzustellen. Mit seinen Worten sandte er das Gefühl des Versagens, der Missachtung und des Verlassenseins aus und die Macht Haschevets verstärkte diese Empfindungen in Zephons verbittertem Geist.
    Als Yonathans Worte verhallt waren, trat eine

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