Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok
Melech-Arez ausziehen konnten, um Zephons Samen in die Welt hinauszutragen. Yenoach verbrannte Zephon in einem übernatürlichen Feuer, das von der Spitze Haschevets ausging. Von da an konnten sich alle denkenden Geschöpfe aus freiem Willen entscheiden, wem sie dienen wollten: Melech-Arez oder Yehwoh.
Das Land aber – und damit komme ich auf deine Frage zurück, Yo –, in dessen Mitte Zephon gestanden hatte, wurde verschlossen, ›sodass kein Volk mehr dort seinen Wohnsitz nehme‹, steht im Sepher Schophetim geschrieben.«
Yomi schaute seinen Freund mit großen Augen an. »Meinst du etwa, dieses ›verschlossene Land‹ und das Verborgene Land hier sind ein und dasselbe?«
»Es sieht fast so aus.«
»Und dieser ziemlich tote Baum da«, er deutete mit dem Daumen über die Schulter, »ist Zephon, der von Yenoach verbrannte Baum?«
»So weit möchte ich nicht gehen. Ich habe zweimal erlebt, was passiert, wenn Haschevet etwas vernichtet – von Zephon ist sicher nicht einmal Holzkohle übrig geblieben. Sein Staub dürfte sich in alle Winde verteilt haben. Außerdem ist mir aufgefallen, dass der Grund unter der vertrockneten Krone dieses Baumes sehr weich ist.« Yonathan krallte seine Hand in den Boden, hob etwas von dem trockenen, mulchartigen Gemisch in die Höhe und betrachtete es prüfend, während er es zwischen seinen Fingern herabrieseln ließ. »Das hier sieht aus, als bestünde es aus vertrocknetem und zerfallenem Laub. Und das wiederum würde bedeuten, dass dieser Baum noch vor kurzem genauso lebendig war wie alle anderen Pflanzen um uns herum auch. Vielleicht hat er durch irgendeine Krankheit alle seine Blätter verloren.«
Yonathans Blick wanderte wieder zu der Stelle, an der sie in den Krater hinabgestiegen waren. Die verfallenen Treppe war im Dämmerlicht nur noch als dunkle Linie zu erkennen. Er deutete hinüber und fügte hinzu: »Aber das da drüben, das könnte vor über viertausend Jahren von den Geschöpfen Melech-Arez’ gebaut worden sein.«
Yomi schauderte. Ihm war kalt, trotz der unverändert schwülen Luft in der hereinbrechenden Nacht. »Vielleicht hätten wir doch lieber woanders unser Nachtlager aufschlagen sollen.«
»Ich glaube nicht, dass uns von diesen Wesen noch irgendwelche Gefahr droht«, vermutete Yonathan.
»Vielleicht hast du Recht«, sagte Yomi zweifelnd. »Die sind ja längst alle ausgezogen.«
Nachdem Yonathan und Yomi ihr Mahl beendet hatten, bereiteten sie sich ihr Nachtlager. Da der Boden weich und trocken war, musste diese Nacht bequemer werden als die letzte, in der sie kaum ein Auge zugetan hatten. Es wurde vereinbart, dass zunächst Yomi und später Yonathan Wache halten würde. Dabei hatten sie jedoch nicht bedacht, dass die Anstrengungen der vergangenen Tage ihren Tribut forderten. Nicht lange, nachdem Yonathan in das Reich der Träume eingetreten war, schwand auch Yomis Widerstand: Sein Kopf sank auf die Brust und er ließ ein lautes Schnarchen hören.
Hätte Yomi Yonathans Traum gekannt, so wäre er wohl wach geblieben und hätte damit sich und seinem Freund Schlimmes ersparen können.
Yonathan fühlte Wärme in sich hoch kriechen. Diese Wärme war jedoch nicht wohlig wie die eines lodernden Kamins in einer kalten Winternacht. Vielmehr fühlte Yonathan Unbehagen wie von der Umarmung eines ganz und gar nicht freundlich gesinnten Wesens. In seinem Traum sah er Yomi – schlafend, in sich zusammengesunken – an dem grauschwarzen Stamm des verdorrten Baumes lehnen. Er wollte ihn wachrütteln, doch er konnte nicht – er selbst schlief ja auch, und sein ruhender Körper dachte nicht daran, seinem Geist zu gehorchen. Obwohl seine Augen geschlossen waren, erblickte er über sich das kahle Geäst des Baumes. Er glaubte eine Bewegung wahrzunehmen.
Zunächst war er sich nicht sicher, ob er sich getäuscht hatte – vielleicht war es auch nur ein sanftes Wiegen im Wind. Dann aber wurde die Bewegung offensichtlich. Ein dicker Ast, der bisher schräg in die Höhe gezeigt hatte, wandte sich den Schlafenden zu und näherte sich ihnen vorsichtig. Die Schatten der Nacht verwandelten den Ast in ein fremdartiges Tier. Er bewegte sich mit großer Geschmeidigkeit hin und her, wie ein Raubtier, das sein Opfer zunächst genau studiert, bevor es zum tödlichen Biss ansetzt. Während Yonathan beunruhigt feststellte, wie sich ihm langsam ein fingerdünnes Ende des Geästs näherte, registrierte er aus den Augenwinkeln eine weitere Veränderung: Im Astwerk der Krone bildeten sich
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