Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok
und weil ich angewidert den Kopf zur Seite gedreht hatte, drückte mir die Fee diese Frucht statt in den Mund seitlich aufs Gesicht. Sie zerplatzte und etwas lief mir brennend über die Haut. Dann wurde ich wach.«
»Genau zum richtigen Zeitpunkt«, bemerkte Yonathan.
»Ja, leider«, seufzte Yomi.
Mit Befremden hörte Yonathan die Enttäuschung in der Stimme seines Freundes. »Vergiss die Fee«, sagte er. »Sie war nur ein Trugbild. Außerdem war sie nicht ehrlich zu dir.«
»Wie meinst du das?«, fragte Yomi ungläubig.
»Sie hat dir nur die Hälfte erzählt. Sie hat dir Wissen und die Erfüllung von Wünschen versprochen. Aber die Fee sagte weder etwas darüber, welches Wissen du erlangen könntest, noch erwähnte sie, welche Wünsche sich dir erfüllen würden. Der Grund lag auf der Hand.«
»Und der wäre?«
»Nun, die Fee – oder sagen wir besser Zephon – wollte, dass du deinen freien Willen aufgibst. Wie damals, als auf Neschan das Verhängnis seinen Anfang nahm, wollte Zephon, dass wir beide uns seinem Willen unterstellen. Und dieser Wille bedeutete nichts anderes, als dass wir zu Sklaven Melech-Arez’ werden sollten. Seine Wünsche wären dann die unsrigen. Kein Wunder, dass die Fee von Wünschen sprach, die dir heute nicht einmal in den Sinn kommen würden. Es wären nicht deine, es wären die von Melech-Arez.«
»Aber es gab doch immer Menschen, die nicht Yehwoh und auch nicht einem der anderen Götter dienten, sondern ausschließlich Melech-Arez ergeben waren. Schließlich ist er derjenige, der Neschan erschaffen hat.«
»Das stimmt. Doch diese Personen dienten Melech-Arez aus freien Stücken. Sie hatten die Wahl, sie konnten sich entscheiden. Das kann man daran erkennen, dass viele von ihnen Melech-Arez den Rücken kehrten, um Yehwoh zu dienen.«
»Du meinst also, Zephon hätte uns zu Puppen gemacht, wie in einem großen Schattenspiel?«
»So ist es.« Yonathan lachte auf. »Wir wären die Puppen und Melech-Arez der Puppenspieler, der Meister der Schatten – ein schöner Titel!«
Yomi pfiff durch die Zähne. »Du hast einen ziemlich eigenartigen Humor, Yonathan. Ich glaube, wir haben noch mal großes Glück gehabt.«
»Vielleicht war es mehr als Glück. Ich kann es nicht richtig beschreiben, Yo. Aber mir war, als stellte mir jemand ein Rätsel und sagte: ›Wenn du es löst, dann wirst du dich von Zephon befreien können.‹ Als ich das Geheimnis gelüftet hatte, ergab sich der Rest von selbst.«
Yomi schwieg eine Weile. Er fühlte sich gar nicht wohl in seiner Haut. Schließlich fragte er mit gedämpfter Stimme: »Wer denkst du denn, hat dir dieses Rätsel gestellt?«
Yonathan schmunzelte. »Sicher jemand, der es gut mit uns meint.«
»Glaubst du etwa, es war…Yehwoh?«
»Vielleicht einer seiner Boten.«
Abermals pfiff Yomi durch die Zähne. Dann fragte er kaum hörbar: »Ob er wohl… ich meine, in diesem Augenblick…?«
»Du meinst, ob er uns beobachtet? Das kann gut sein. Wenn ich es mir recht überlege, bin ich sogar überzeugt davon.«
Yomi schluckte schwer. »Ich denke, ich werde jetzt schlafen.«
»Ja, tu das. Heute Nacht wird uns wohl niemand mehr stören.«
»Gute Nacht, Yonathan.«
»Gute Nacht, Yo.«
Als Yonathan am nächsten Morgen erwachte, vernahm er seltsame Geräusche. Ein leises Rascheln drang an sein Ohr.Dann wieder hörte er ein Schaben, so, als streiften Äste aneinander. In der bangen Erwartung, sich erneut einer gefährlichen Bestie erwehren zu müssen, riss Yonathan die Augen auf, blieb aber bewegungslos liegen. Was er sah, war weder bedrohlich noch bestialisch: Ein taubengroßer Vogel spielte vor ihm mit kleinen Holzstückchen herum. Das Tier hatte einen kurzen Papageienschnabel und trug einen knallroten Federschopf, der kurz über den runden, lebhaften Augen in einer schwarz-weiß-schwarzen Borte endete. Einen Hals hatte der Vogel nicht und der kurze, gedrungene, eiförmige Körper des Papageis wirkte nur aufgrund seiner langen Schwanzfedern und der spitz zulaufenden Flügel nicht allzu plump. Sein Gefieder war hellblau, abgesehen von den grellgelben Flügelspitzen, und die Augen lagen in einem weißen Hof, der nur von dem Federschopf leicht verdeckt wurde. Alles in allem bot der Vogel einen recht gutmütigen Anblick.
Mit schräg gestelltem Kopf beäugte der kleine Vogel den Menschen eingehend. Gleichzeitig rückte er mit watschelndem Schritt vorsichtig näher. Schließlich saß er zum Greifen nahe vor Yonathans Nasenspitze und ließ ein leises
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