Neschan 02 - Das Geheimnis des siebten Richters
Grauhaarigen zurückzulegen. Der Mann sah freundlich aus. Jonathan bangte um den lächelnden Alten.
Aber dieser wirkte so ruhig, so ohne Furcht, so zuversichtlich, dass er schließlich doch den letzten Schritt tat.
Jonathan streckte den Stab in die Höhe und als der alte Mann den Schaft umfasste, trafen sich ihre Blicke.
Während Jonathan in die lebendig funkelnden Augen des Alten schaute, schien er von diesen förmlich aufgesaugt zu werden. Wie in ein bodenloses Loch stürzte er immer tiefer in diesen Blick hinein. Alles um ihn herum begann sich zu drehen. Er tauchte in einen schillernden Strudel ein, dessen Millionen Luftbläschen alle in einer anderen Farbe leuchteten.
In seinem schwerelosen Flug schien Jonathan den einzelnen Bläschen näher zu kommen. Verwundert bemerkte er die Bilder darauf. Er sah einen kleinen schwarzhaarigen Buben mit mandelförmigen Augen. Er sah ein dickes Buch, in dem lateinische Wörter standen. Für einen Moment blitzte die Gestalt Benels auf; Yehwohs Bote sprach Worte, die zu leise waren, um sie zu verstehen. So ging es weiter und weiter. Zuletzt blickte Jonathan aus Augen, die nicht seine eigenen waren, auf eine Hand, die Haschevet hielt; über dem goldenen Knauf des Stabes jagte eine riesige Windhose heran. Aber das war nicht jener Wirbelsturm, der ihn an die Grenzen von Gan Mischpad geleitet hatte. Der Sturm war ein anderer und das Land war ein anderes. Und doch war ihm diese Gegend vertraut, die dunklen Nadelbäume, die klare Luft, die Wiesen. Kein Wunder, ein Teil seines Ichs war hier aufgewachsen, bei den Bergen im Hinterland von Kitvar. Dann verschwamm alles. Der Wirbelsturm ergriff den Betrachter, die Hand ließ den Stab fallen und wenig später sah er den friedlichen Garten der Weisheit wieder. Er spürte tiefe Trauer, Reue über einen Moment der Unachtsamkeit. Dann kam alles in einem Strom langer Jahre zur Ruhe, in denen es nichts als den Garten der Weisheit gab.
Als Jonathan wieder klar sehen konnte, stand der Alte noch immer unbeweglich vor ihm und hielt den Stab fest. »Was war das?«, keuchte er. Doch dann dachte er an die Bilder und wusste, wen er vor sich hatte. Ehrfürchtig senkte er den Blick. »Verzeiht, Goel.«
Goel nahm den Stab endgültig aus Jonathans Hand, ließ für einen Moment den Blick beinahe liebevoll über den kostbaren Gegenstand gleiten und wandte sich dann wieder seinem Gast zu.
»Es war notwendig, weil es uns viele Worte erspart. Nicht dass ich an einem kleinen Pläuschchen mit Euch kein Interesse hätte, nach so vielen Jahren. Aber ich glaube, es war hilfreich, um unsere weitere Zusammenarbeit auf eine solide Grundlage zu stellen.«
»Ich verstehe nicht. Warum nennt Ihr mich immer Geschan? Dieser Name gebührt mir nicht. Er gehört dem siebten Richter. Ich heiße Jonathan.«
Goel nickte und einen Augenblick lang glaubte Jonathan, der Richter hätte endlich verstanden, worum es ging. Aber dann senkte der Alte wieder die Augen, schaute noch einmal auf den Stab, wie jemand beim Abschied in das Gesicht eines geliebten Menschen blickt und hob sodann Haschevet mit beiden Händen in die Höhe.
»Dein Vater nannte dich Jonathan«, sagte er in feierlichem Ton. »Leider ist er viel zu früh gestorben, wie ich sah. Aber er hat in deinem Herzen die Grundlage für vieles andere gelegt. Nimm nun diesen Stab, Geschan, denn er gebührt dir. Trotz deiner Jugend hast du dich für dein schweres Amt als würdig erwiesen. Du besitzt die Gabe der vollkommenen Liebe. Du hast das Böse besiegt. Du bist der siebte Richter.«
Jonathan merkte, wie ihm schwindelig wurde. Das war zu viel. Er, der siebte Richter? Ungläubig blickte er in Goels Augen, aber da entdeckte er nichts, das den Gedanken an einen Scherz nahe legte. Der alte Richter meinte es wirklich ernst!
Während er zaghaft nach dem Stab griff, begannen Erinnerungen seiner zurückliegenden Reise an ihm vorüberzufliegen. Gleich am Anfang, am Tage des Aufbruchs aus Kitvar, hatte Navran von den Gedanken gesprochen, die ihn vor etlichen Jahren beschäftigten, als er den kleinen Yonathan aus dem Meer fischte. »Ich wusste schon immer, dass vieles in dir steckt, schon damals, als du als kleiner Knabe an unsere Küste geschwemmt wurdest«, hatte sich der Ziehvater entsonnen. Jetzt wusste Jonathan, was Navrans wirkliche Gedanken waren: Ich wusste schon immer, dass du einer der Unsrigen, ein Träumer, bist.
Schließlich gehörte der Pflegevater selbst zu den Unsrigen und wie es schien, besaß diese Gruppe von
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