Neschan 02 - Das Geheimnis des siebten Richters
die Lage ein wenig anders ein
– wohl zu Recht. Die meisten von ihnen hatten längst panikerfüllt die Flucht ergriffen. Tiere scheuten und sprengten reiterlos in alle möglichen Richtungen davon. Der Sturm brüllte und fauchte wie ein gewaltiges Raubtier. Der himmelhohe Trichter hatte sich vom Boden erhoben und strebte mit seinem Zentrum direkt auf die kleine Schar um den Stabträger zu.
»Rührt euch nicht, bis ich es sage!«, rief Yonathan.
Mit einem Mal herrschte Ruhe. Eine Stille, in ihrer Plötzlichkeit ebenso Furcht einflößend wie die wütende Macht des Wirbelsturms.
»Das gefällt mir gar nicht«, keuchte Yomi.
»Das gefällt mir sogar sehr gut!«, rief Yonathan euphorisch.
»Wir sind im Auge des Sturms«, hauchte Gimbar, während er furchtvoll um sich blickte, als befürchte er, die Wände der Windhose könnten jeden Augenblick über ihm zusammenstürzen.
»Wenn ich mich nicht täusche, wird das Sturmauge sich jeden Moment in Bewegung setzen«, sagte Yonathan, von Hast ergriffen. »Schnell! Steigt auf eure Pferde. Wir müssen immer im Zentrum des Wirbels bleiben.«
Kaum hatten er und seine Gefährten ihre Tiere bestiegen, setzte das Auge des Sturms sich in Bewegung und obwohl in dem blauweißen Wirbel jede Orientierung unmöglich war, wussten doch alle, dass der Sturm sich jetzt wieder auf Gan Mischpad zubewegte.
»Er geleitet uns direkt zum Garten«, staunte Yehsir.
»Eine wahrhaft machtvolle Eskorte!«, bemerkte Felin ehrfürchtig.
Langsamen Schritts näherte sich die Karawane ihrem unsichtbaren Ziel. Ein weiteres Wunder, das in der Gischt der sich überschlagenden Ereignisse kaum wahrgenommen wurde, war die Ruhe der Reit-und Packtiere. Nur Gurgi hatte vorsichtshalber unter Yonathans Umhang Zuflucht genommen.
Plötzlich hob sich die Windhose wieder. Mit rasch zunehmender Geschwindigkeit zog sie sich in die Höhen des Grenznebels zurück, der jetzt unmittelbar vor der Karawane aufragte.
»Ich hoffe, der Garten lädt uns wirklich alle ein«, murmelte Yomi. Seine Augen schienen in dem undurchsichtigen Nebel nach etwas zu suchen.
»Hab keine Furcht«, beruhigte ihn Yonathan.
»Da! Hinter uns!«, ertönte plötzlich Gimbars Stimme.
Köpfe flogen herum. Sethur sprengte mit wehendem Umhang auf seinem Rappen heran. Hinter ihm folgte ein kläglicher Rest seiner Schar.
»Die sehen nicht aus, als könnten sie Spaß vertragen«, stellte Gimbar fest.
»Sie sind wahnsinnig«, erwiderte Yonathan. »Sie werden alle zu Tode kommen, wenn sie uns in den Nebel folgen.«
»Hast du etwa Mitleid mit ihnen?«, fragte Yomi erstaunt.
»Sie sind Menschen, Yo! Gefangene Temánahs! Vielleicht könnten einige von ihnen gerettet werden, wenn man ihnen nur die Gelegenheit dazu gäbe.«
Schon konnte man Sethurs Gesicht erkennen. Vielleicht war es auch die Kraft des Koach, die Yonathans Sinne schärfte, aber er glaubte, die Gefühle hinter diesem Antlitz lesen zu können: Verzweiflung, grenzenlose Verwirrung und… Liebe?
»Wir können nicht länger warten, mein Freund.« Das war Felin.
Yonathan nickte. »Er hätte gewonnen werden können«, sagte er traurig.
Er fühlte Gimbars Hand auf seiner Schulter. »Ich glaube, in einer gewissen Weise hast du ihn gewonnen, Yonathan. Komm jetzt, bitte. Schließlich müssen wir dir folgen und nicht du uns.«
Noch einmal nickte Yonathan und ließ betrübt den Kopf hängen. Dann wandte er sich um und führte sein Lemak in den milchigen Nebel.
Ebenso schnell wie die Schleier der blauweißen Wolke die Karawane verhüllten, entfernten sich auch die Geräusche der nachfolgenden Feinde. Flüchtende wie Verfolger tauchten in die undurchsichtige Substanz und jeder war plötzlich allein.
Der Wechsel stellte sich so plötzlich ein, dass Yonathan erschrocken den Zügel Kumis losließ und sich umwandte. Aber da war nichts, nichts zu sehen und nichts zu hören. Er drehte sich wieder um und ging weiter. Das leise Knirschen unter seinen Füßen, sein regelmäßiger Atem und das Schlagen seines Herzens waren die einzigen Geräusche, die ihn begleiteten.
Er fühlte sich plötzlich sehr müde. Kein Wunder, sagte er sich, die Ereignisse der letzten Stunde gaben Anlass genug sich ausgelaugt zu fühlen. Abwesend bemerkte er, dass er vergessen hatte den Zügel Kumis wieder aufzunehmen. Er tappte ganz allein durch den schweren Nebel. Auch nicht so schlimm, dachte er. Kumi wird sich schon zu helfen wissen.
Die Müdigkeit wurde immer schlimmer. Schließlich beschloss er sich für eine kleine
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