Neschan 02 - Das Geheimnis des siebten Richters
aber nicht verhehlen, dass ihm soeben ein Stein vom Herzen gefallen war. »Gut, Geschan. Als du mir den Stab Haschevet übergabst, waren wir beide für einen Augenblick eins. Du sahst alle meine Erinnerungen und ich die deinen. Deshalb habe ich auch von diesem Versprechen an deinen Großvater und deinen Freund Samuel gewusst und aus diesem Grunde befinden wir uns auch hier in diesem Garten.«
Goel hob die Hand. »Komm.«
Der Richter führte Jonathan in ein Heckenrondell, in dem verschiedene Rosensträucher blühten. Genau im Zentrum des runden Platzes stand ein kräftiger Rosenstamm, der sich von allen anderen unterschied: Er war schneeweiß. Nicht nur die Blüten, sondern auch die Zweige, die Dornen, alles leuchtete hell im silbernen Licht des Mondes.
»Das ist…«
Goel nickte. »Richtig, die weiße Rose Ascherels, deren wahrer Name Tarika lautet.«
»Seltsam, ich kenne Tarikas Rose, schon seit ich denken kann. Sie befindet sich im Wappen meiner Familie, der Jabboks, aber ich hätte nie geglaubt, dass diese kleine Blume einmal eine solche Rolle in meinem Leben spielen würde. Stimmt es, dass eine Blüte von diesem Stamm nicht verwelkt, solange ihr rechtmäßiger Besitzer lebt?«
»Das ist wahr. Ascherel erzählte mir davon, während sie mich ausbildete. Du musst wissen, deine Urgroßmutter war meine Lehrerin. Viele nannten sie wegen der Blüte, die sie stets mit sich führte, die Weiße Rose. Benel hatte sie mit diesem wundersamen Gewächs einst überzeugt, dass er ein Bote Yehwohs sei. Daraufhin begleitete sie ihn nach Neschan.«
»Ist es denn so einfach, zwischen der Erde und Neschan hin und her zu wechseln?«
»Es geht nur, solange der Träumer noch nicht den endgültigen Entschluss gefällt hat. Danach bleibt der Weg für immer versperrt.«
»Dann stimmt es also, dass auch die Richter Träumer sind?«
»Natürlich. Nur dass diejenigen, die sich die Unsrigen nennen, ihren irdischen Ursprung vergessen. Viele gottesfürchtige, gute Menschen sind von der Erde verschwunden, ohne dass man dort je wieder etwas von ihnen hörte, um hier, auf Neschan, ihr Frieden stiftendes Werk zu verrichten. Aber die Richter sind die Einzigen von ihnen, die ihre ganze Erinnerung behalten dürfen.«
»Kann ich eine… nein, zwei von diesen Rosen mitnehmen, um sie meinem Großvater und Samuel zu hinterlassen?«
»Deshalb habe ich dich ja hierher geführt, Geschart. Aber es gibt da zwei Regeln, die du beachten musst. Du kannst deinen Großvater nicht mehr sprechen. Niemand weiß dort, wohin die Träumer gehen, und niemand weiß hier, woher sie kommen.
Das ist die erste Regel. Wenn du sie brechen würdest, bräche auch das Gefüge zusammen, das die beiden Welten verbindet.«
Jonathan seufzte schwer. »Und was ist mit der zweiten Regel? Wie lautet sie?«
»Man kann nichts aus der Welt herausnehmen, ohne etwas anderes dortzulassen – das Gleichgewicht muss bewahrt werden. Wenn du also die Rosen dort zurücklässt, musst du zwei andere Gegenstände mitnehmen – nur zwei! – nicht mehr und nicht weniger. Hast du das verstanden?«
»Es war nicht allzu schwer«, entgegnete Jonathan und war doch traurig, dass er die liebsten Menschen, die er auf der Erde hatte, ohne ein einziges Abschiedswort verlassen musste. Er holte tief Luft, straffte die Schultern und sagte: »Also gut, was muss ich tun?«
»Gleich hinter dieser Hecke dort beginnt der Grenznebel. Geh einfach hinein. Du wirst dein Zimmer schnell finden.«
»Wird man mich dort nicht schon suchen?«
Goel lächelte tiefgründig. »Ist dir noch nicht aufgefallen, dass die Zeit hier in Neschan eine andere ist als dort?«
»Doch, auf der Erde scheint sie langsamer zu vergehen.«
»Richtig. Frag mich nicht, wie das kommt, aber sei sicher, dass du in deinem Zimmer alles so vorfinden wirst, wie du es verlassen hast.«
Jonathan gab sich damit zufrieden. Es hätte vermutlich ohnehin nicht viel gefruchtet, über das Wesen der Zeit und des Raumes nachzudenken, die Neschan und die Erde verbanden.
An der Grenze zum blauweißen Nebel ließ Goel den Stabträger allein. Nur ein ganz wenig zaghaft schritt Jonathan voran. Er zweifelte nicht an der Wahrheit von Goels Worten, er fürchtete nur, plötzlich gegen irgendein unsichtbares Hindernis zu stoßen.
Tatsächlich erschien das Sprossenfenster im ersten Stock von Jabbok House dann auch sehr plötzlich vor seiner Nase. Es stand noch immer offen. Jonathan kletterte hinein und schaute sich um. Noch immer drangen Stimmen durch die Tür.
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