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Nesser, Hakan

Nesser, Hakan

Titel: Nesser, Hakan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Perspektive des Gaertners
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Abend für Abend
wiederholt zu werden? Wer ist dazu in der Lage?
    Natürlich,
es gibt solche Geschichten und auch solche Erzähler, ich bin der Erste, der
das einräumt. Mein Gefühl des Versagens habe ich einzig und allein mir selbst
zuzuschreiben. Und zwar damals wie heute.
    Die
Veranstaltung fand in einem alten, umgebauten Kino im Art-deco-Stil statt. Die
Anzahl der Plätze betrug vier- bis fünfhundert, es gab nicht einen einzigen
freien Stuhl im Raum. Als ich nach ungefähr vierzehn Minuten damit begann,
meinen Sechs-Minuten-Text aus dem zweiten Kapitel vorzulesen, trat etwas
Sonderbares ein, was mir bis heute unerklärlich ist.
    Ich
wurde plötzlich blind. Der Text - und das Buch und die Hände, die das Buch
hielten, und das Rednerpult und das gesamte vierhundertfünfzigköpfige Publikum
- verschwand vor meinen Augen, und eine Sekunde lang dachte ich, meine letzte
Stunde hätte geschlagen. Ich würde hier auf der Bühne, während meines
Auftritts, sterben. Möglicherweise gelang es mir sogar - in aller Hast -,
diesem finsteren Gedanken ein wenig bittere Süße abzugewinnen, denn auch wenn
meine Romane in zehn, zwanzig oder dreißig Jahren bestimmt vergessen sein
werden, so würde der eine oder andere Bücherwurm sich gewiss noch daran
erinnern, wie ich meine Tage beendet hätte.
    Und
Berühmtheit, in welcher Gestalt auch immer, ist nie zu verachten.
    Aber
so schlimm kam es nicht. Ich umklammerte mit der linken Hand die
hervorstehende, etwas spitze Seitenkante des Pultes, mit der rechten das Buch,
und da der Text sich mir nach all den Vorstellungen bis zur letzten Atempause
und bis zum kleinsten Semikolon eingeprägt hatte, las ich einfach weiter, als
wenn nichts wäre. Ich blätterte sogar an der richtigen Stelle um, und nach
einem gewissen Zeitraum, den ich damals nicht einschätzen konnte, von dem ich
jedoch im Nachhinein annehme, dass er ungefähr zwei Minuten betrug, kehrte mein
Augenlicht zurück.
    Der
Text erschien wieder vor mir - das Buch, meine Hände, die ein wenig zitterten,
ich hatte es nicht bemerkt, aber jetzt sah ich es, das Scheinwerferlicht und
die Gesichter der Menschen, die in den ersten zwei, drei Reihen saßen -, und
mir war klar, dass ich etwas sehr, sehr Ungewöhnliches erlebt hatte.
    Vielleicht
war es ein Zeichen oder ein Omen, aber ich habe nie auch nur annähernd
begriffen, wie es zu deuten wäre.
     
    Eine
halbe Stunde später - ich war der letzte Autor gewesen, der auftrat - befanden
wir uns in dem obligatorischen Restaurant. Analyse, Nachgespräch, der
Leichenschmaus. Wir waren so um die zwanzig, ein Quartett an Schriftstellern,
eine Handvoll Organisatoren, ein paar Buchhändler, einige Journalisten und
drei oder vier weitere Gäste. Die Tafel wurde nach einer guten Stunde
aufgehoben, da einige sich noch ein wenig bewegen wollten, und ich landete bei
einer dunklen Dame in den Dreißigern, ich hatte ihre Funktion am Abend nicht
herausgefunden, und sie offenbarte sich mir auch nicht. Auch ihren Namen nannte
sie mir nicht.
    »Mir
gefällt Ihr Buch sehr gut«, begann sie stattdessen das Gespräch.
    Das
war keine ungewöhnliche Einleitung, wenn man die Umstände bedachte, und ich
begnügte mich damit, ihr zu danken.
    »Es
gab da vor allem einen Abschnitt, der mich tief bewegt hat«, fuhr sie fort.
    Ich
murmelte etwas Unverbindliches als Antwort, fühlte mich wie immer in so einer
Situation etwas unsicher und verlegen. Entblößt und bereit für die Obduktion,
wie ein Kollege die Sache zu bezeichnen pflegt.
    »Es
geht um dieses Gedicht«, sagte sie. »Gibt es das wirklich? Ich meine, Sie
behaupten in Ihrem Buch, dass es von diesem russischen Dichter verfasst wurde,
aber ich könnte mir denken, dass Sie es selbst geschrieben haben.«
    »Da
denken Sie ganz richtig«, erwiderte ich.
    »Sie
haben es selbst geschrieben?«
    »Ja«,
gab ich zu, »auch dafür bin ich verantwortlich.«
    Sie
legte mir eine Hand auf den Arm und schien sich zu konzentrieren. Ich trank
einen Schluck Wein und fühlte mich bedrängt, aber gleichzeitig auch
geschmeichelt, das will ich gar nicht leugnen.
    »Sechs
Fuß unter der Erde«, zitierte sie, »in
der Morgendämmerung, zwei blinde Würmer, die verweilen.«
    » Ja«,
sagte ich. »So steht es da.«
    »Und
Sie sind derjenige, der es geschrieben hat?«
    »Ja.«
    Ich
wand mich. Es ist eine Sache, dass jedes Buch als ein Gespräch zwischen zwei
Personen betrachtet werden kann, nämlich einem Autor und dem Leser. Es ist
etwas ganz anderes, wenn der Schutz, den das Buch

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