Nesthäkchen 01 - Nesthäkchen und ihre Puppen
Schand.«
Annemarie konnte nicht mehr stillsitzen. Der Ast, auf dem sie saß, begann bedenklich zu knacken. Auch Puppe Gerda hatte es nun über, sich ruhig zu verhalten. Sie baumelte zum Zeitvertreib ein bißchen mit ihren Beinen.
»Holla - was ist denn das?« Auf Frau Apothekers Nase war plötzlich etwas vom Baum herabgesprungen und zur Erde gefallen, etwas kleines Braunes.
»Es wird eine Nuß gewesen sein«, beruhigte Tante Kätchen die erschreckte Dame.
Gerda aber reckte den Hals hinter ihrem ausgerückten Goldkäferschuhchen her.
Bautz - da verlor sie selbst das Gleichgewicht, kopfüber stürzt sie vom Baum herab, mitten hinein in die Schlagsahne.
Laut kreischte das Damenkränzchen auf vor Schreck.
Nur die dicke Frau Bürgermeister behielt ihren Humor.
»Was kommt denn da für'n Vogel angeflogen?« lachte sie und fischte Gerda aus der Schlagsahne.
»Das ist ja Annemaries Puppe, na, da wird ihr Mütterchen wohl auch nicht weit sein!« rief Tante Kätchen und spähte in den Nußbaum.
Richtig, da wuchsen ein paar braune Kinderbeinchen.
Und ein jämmerliches Stimmchen rief herunter: »Bitte, Tante Kätchen, hole mich doch!«
Unter allgemeinem Lachen kam auch das zweite Vögelchen zum Vorschein.
»Aber Annemarie, was wolltest du denn da oben?« fragte Tante Kätchen, als die Kleine endlich wieder glücklich auf ihren Füßen stand.
»Wir wollten doch so schrecklich gern bei deinem Damenkränzchen sein, aber es war mächtig langweilig!«
Da lachten die Damen wieder über die schmeichelhaft Kritik, Tante Kätchen aber fragte erstaunt: »Wir - wen meinst du denn noch?«
»Na, die drei Jungs, Gerda und ich.« Aufs neue lugte Tante Kätchen in den Nußbaum, aber kein Vogel ließ sich weiter sehen.
Die drei waren längst in dem allgemeinen Tumult ausgeflogen, das Nest war leer.
Das war Klaus und Annemaries letzter Streich in Arnsdorf, und am nächsten Tage ging's nach Hause.
Im Kindergarten
Eigentlich hätte Nesthäkchen im Oktober in die Schule kommen sollen.
Sie war auch bereits angemeldet worden.
Aber die städtische Mädchenschule in der Nähe war überfüllt, und in eine Privatschule wollten die Eltern die Kleine nicht schicken. So wurde Annemarie denn für Ostern vorgemerkt, und Mutti war froh, ihr Nesthäkchen noch den Winter über zu Hause behalten zu können.
Aber es kamen Tage, an denen Mutti doch wünschte, Annemarie wäre zu Oktober in der Schule angenommen worden. So erfreut die Eltern auch waren, ihre Kinder sonnenverbrannt und rotbäckig wiederzusehen, sowenig erfreut waren sie über die Verwilderung, die mit ihnen bei dem ungebundenen Landleben vor sich gegangen.
Für Klaus war ja die Schule die beste Medizin, da mußte er wieder stillsitzen lernen, aber Nesthäkchen war schwer daheim zu bändigen. Sie konnte sich gar nicht wieder an das Stadtleben gewöhnen.
Die Korridortür mußte fest verschlossen bleiben, damit es Annemarie nicht einfiel, plötzlich auf und davon zu gehen - sie hatte es ja in Arnsdorf auch so gemacht. Auf dem Balkon konnte man sie schon gar nicht mehr alleinlassen; denn sie kletterte dort an dem Gitter ebensogut hoch wie in Arnsdorf an den Bäumen. Selbst während der Sprechstunde mußte Vater seine Zimmer fest verschlossen halten, seitdem sein Fräulein Tochter plötzlich bei ihm erschienen war und ohne Scheu vor den Patienten erklärt hatte, sie wolle ihm ein bißchen kurieren helfen. Auch im Tiergarten war der Wächter keine gefürchtete Persönlichkeit mehr. Annemarie sprang übers Gitter und lief auf den Rasen hinter ihrem Ball her, ob das Fräulein auch noch soviel warnte. Fräulein Lena hatte es schwer mit dem Wildfang. Sehr erstaunt und recht wenig erfreut waren die Puppen über die Verwandlung, die mit ihrer kleinen Mama vor sich gegangen war. Nur ganz selten mochte sich Annemarie noch mit ihnen abgeben, viel lieber tollte und tobte sie. Kurt mußte jetzt eine ganze Woche mit einem Loch im Strumpf gehen, Irenchen bekam nur höchstens alle acht Tage noch ihre echten Haare ausgekämmt, Mariannchens Augen blieben verklebt, Lolo war noch unordentlicher als früher, und Baby wollte gar nicht mehr recht gedeihen. Es fehlte allen die Mutterliebe. Annemarie zog die Puppen nicht mehr an und aus, sie ließ sie nicht mehr in ihrem Gärtchen Spazierengehen, ja, nicht einmal ins Bett kamen die armen Würmer. Meistens lagen sie verstreut auf der harten Erde herum. Das arme Irenchen hatte neulich sogar die ganze Nacht unter dem Kleiderschrank zubringen
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