Nesthäkchen 02 - Nesthäkchens erstes Schuljahr
röter als die Schultüte, mit beiden Händen griff sie danach.
»Nee, ach nee, die hat mir gerade noch gefehlt; au, ist die fein, die ist ja noch größer als meine Gerda, und soviel Schokolade ist drin - ach, ich danke dir tausendmal, Großmuttchen!« Annemaries Dankesbezeigung fiel so stürmisch aus, daß sich ein süßer Schokoladenregen aus der offengebliebenen Tüte auf Großmama ergoß.
Dann fand Annemarie endlich Zeit, auch Mutti zu begrüßen.
»Na, wie ist's dir in der Schule ergangen, meine Lotte?« fragte Mutti.
»Famos - fünfzig Kinder sind in der Klasse, und Margot Thielen aus unserem Hause ist auch da. Aber das ist eine Heulsuse, ich habe mich zu ihr gesetzt, damit sie sich nicht so sehr grault. Und ich habe gar nicht geheult, bloß ein ganz kleines bißchen geschämt habe ich mich zuerst. Und ein einziges Mal bin ich weggelaufen - «
»Was -du bist fortgelaufen, Lotte?« fiel Mutti ihrem eifrig berichtenden Nesthäkchen ins Wort.
»Ja, aber bloß ein einziges Mal, und ich bin auch gleich wiedergekommen. Fräulein Lena hat mich zurückgebracht«, beruhigte Annemarie die Mutti.
»Aber du darfst doch aus der Schule nicht fortlaufen, Lotte, versprich mir, daß du das nie wieder tun wirst!« verlangte Frau Braun eindringlich.
»Nee - bloß wenn sie mich wieder mal auslachen«, gab Nesthäkchen bereitwillig zu.
»Nein, auch dann darfst du nicht fortlaufen«, sagte Mutti so ernst und bestimmt, wie sie selten zu ihrer Kleinen sprach.
Großmama aber fragte aufgebracht: »Wer hat mein Herzblatt ausgelacht?«
»Alle haben sie gelacht, bloß weil ich gesagt habe, Vater heißt 'Edchen' und 'mein Bester' und 'Herr Doktor' - und er heißt doch so!« setzte Klein-Annemarie, das Köpfchen zurückwerfend, hinzu und gab ihrer Behauptung durch Auftreten mit dem Füßchen noch stärkeren Nachdruck.
Da lachten auch Großmama und Mutti herzlich. Diese aber sagte dann: »Wenn du wieder einmal danach gefragt wirst, Lotte, dann sagst du, dein Vater heißt Doktor Braun. Und nun gehe und lege die Mappe ab, Kind, oder willst du gleich bis morgen früh so bleiben?«
Jetzt mußte auch Nesthäkchen, das eben noch ganz bestürzt in die belustigten Gesichter geblickt hatte, lachen. Und dann sprang Annemarie, ihre große, rote Schultüte in der Hand, ins Kinderzimmer, wo die Puppen schon sehnsüchtig auf sie warteten.
Da ging ein Leuchten über all die starren Porzellan-und Zelluloidgesichter, als sie ihres kleinen Mütterchens endlich wieder ansichtig wurden.
»Seht mal, Kinder, was ich habe!« Strahlend hielt die Kleine ihren Puppen die große, rote Tüte hin. Die Schulmappe flog - pardauz - in irgendeine Ecke und gerade auf den Puppenjungen Kurt, der sich meistens in allen Ecken herumtrieb.
Aber Annemarie kümmerte sich nicht um Kurts Schimpfen, wohl aber um Fräulein Lenas Worte.
»Pfui, Annemie, so gehst du mit deiner neuen Mappe um - ein ordentliches kleines Mädchen hängt seine Schulmappe an den dafür bestimmten Haken.«
Gehorsam folgte die Kleine. Vorher mußte sie noch schnell Gerdachen das Gesicht streicheln.
»Hattest du sehr große Sehnsucht nach mir, mein Liebling?« flüsterte sie der Puppe ins Ohr.
Die schien mit dem Kopf zu schütteln.
»Na ja, du hast ja jetzt auch einen Mann!« sagte Annemarie. »Ich habe dich ja gestern noch ganz schnell mit meinem Matrosen verheiratet, damit du nicht so allein bist, wenn ich in die Schule muß.«
Aber als sich die Kleine jetzt nach dem jungen Ehemann umsah, war der nirgends zu finden. Nach langem Suchen kam der Matrose endlich aus der Puppenküche hervorgekrochen, dort mußte er wohl gestern abend beim Hochzeitsschmaus vergessen worden sein.
Noch ein junges Ehepaar, das gestern Hochzeit gefeiert, hatte Annemie unter ihren Kindern. Das war das blasse Irenchen und der Puppenjunge Kurt mit den abgeschlagenen Beinen. Irenchen saß sogar noch mit dem weißen Brautschleier und dem grünen Petersilienkranz im Haar da.
Die übrigen Puppen schienen von dem Hochzeitstanz sehr müde zu sein.
Mariannchen machte ihre Augen, die auch sonst nur aufgingen, nachdem sie ein paar tüchtige Stöße bekommen hatte, heute überhaupt nicht auf.
Lolo, das schwarze Mohrenkind, blinzelte Annemarie verschlafen an, und Baby schlief sogar mit offenen Augen.
Annemarie hatte nicht recht Zeit für ihre Kinder. Schularbeiten gab's zwar noch nicht, aber dafür mußte die Schultüte einer eingehenden Musterung unterzogen werden. Jedes fünfte Stück wanderte dabei in das rote Mäulchen
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