Nesthäkchen 02 - Nesthäkchens erstes Schuljahr
anderen waren in der Rechtschreibung auch nicht weiter als sie.
Freilich, Nesthäkchens Schreibseiten sahen noch immer nicht sauber aus.
Da gab es noch manch Krakelfüßchen, manch Schmierfähnchen.
Religionsunterricht liebte Annemarie besonders. Die Schöpfungsgeschichte und die Geschichte vom Paradies, das klang ja wie das schönste Märchen. Nur faßte ihr Köpfchen die biblischen Erzählungen etwas merkwürdig auf.
Mittags, als es Kasseler Rippenspeer gab, sagte Nesthäkchen: »Daraus hat der liebe Gott die Eva gemacht!«
Einige Tage später, da man zu dem Sündenfall im Paradiese gekommen war und Fräulein Hering erzählte, wie der liebe Gott Adam und Eva aus dem Paradies wies, rief Annemarie begeistert: »Ganz wie unsere Hanne, die setzt Klaus auch immer an die Luft, wenn er genascht hat!«
Als sie die Geschichte von Kain und Abel nacherzählen sollte, begann sie: »Kain und Abel waren furchtbar ungezogen und keilten sich doll. Dabei schlug Kain seinen Bruder mausetot.«
Das Kapitel von der Sintflut machte den größten Eindruck auf Nesthäkchen.
»Hat denn der Noah keine Gummischuhe und keinen Regenschirm gehabt, daß er während der ganzen Regenzeit hat in seiner Arche bleiben müssen?« erkundigte es sich teilnahmsvoll.
Von der Turnstunde war unser Wildfang ebenfalls sehr entzückt. Die kleinen Rekruten waren schon ganz forsch einexerziert. Sie marschierten jetzt hintereinander im Takt eins - zwei, ein - zwei und liefen nicht, wie am Anfang, gleich einer Herde wildgewordener Gänse durcheinander.
Sie streckten nicht mehr den Arm vor, wenn der linke Fuß kommandiert war, und sie hatten sogar schon gelernt, im Kiebitzschritt zu hüpfen.
»Großmama, kannst du Kiebitzschritt?« fragte Nesthäkchen die Großmama und führte ihre neue Kunst auch sogleich vor. Großmama lachte.
»Nein, Herzchen, solch Springinsfeld bin ich nicht mehr. Ich muß froh sein, wenn ich ganz gewöhnlichen Schrittes einhergehen kann, ohne daß mich mein Reißen zu sehr plagt.«
»Klaus plagt das Reißen auch sehr, Großmama«, schwatzte die Kleine.
»In seine guten, neuen Hosen hat er sich gleich das erste Mal ein Dreieck gerissen. Fräulein Lena sagt, er sei ein Reißdeibel. Aber ich habe gedacht, Großmamas sind schon zu alt dazu.«
Großmama lachte, daß sich lauter kleine Linien um ihren Mund und ihre Augen gruben.
»Ich wünschte, ich wäre noch solch ein Reißdeibel. Aber mein Reißen ist schmerzhafter, wenn auch vielleicht das von Klaus für Fräulein Lena recht schmerzhaft ist. Mein Reißen sitzt in den Knochen und nicht in den Kleidern.«
Das konnte sich Klein-Annemarie schlecht vorstellen.
Wenn Großmama aber auch keinen Kiebitzschritt konnte, so verstand sie doch eine Kunst, die Nesthäkchen eigentlich noch wertvoller erschien als das Kiebitzhüpfen. Hatte Klein-Annemarie doch schon bittere Tränen geweint, weil es ihr so unsagbar schwer fiel, sie zu erlernen. Das war die schwierige Kunst des Strickens.
»Ach, Großmama, sieht dein Strumpf aber sauber aus!« rief Nesthäkchen voll Bewunderung, als Großmama ihr weißes Strickzeug vorzog.
»Ei, Herzchen, das liegt nur daran, daß ich immer reine Hände habe, wenn ich an die Arbeit gehe.«
»Nee, Großmama, nee, ich kann noch so saubere Hände haben, mein Strickzeug wird doch schwarz. Lauter Löcher und Knoten kommen in meinen Waschlappen, ganz von allein, ich kann gar nichts dafür. Und Fräulein Hering hat mich gestern in der Handarbeitsstunde ein Prudellieschen genannt. Ist das eine Schande, wenn man als Erste in der Klasse ein Prudellieschen ist? Mutter hat's gesagt.«
»Ja, das ist in der Tat eine Schande«, nickte Großmama, und die Brille auf ihrer Nase nickte mit. »Aber mein kleines Annemiechen soll das Stricken bald lernen und kein Prudellieschen mehr sein. Wozu wäre denn wohl die Großmama da! Nächsten Sonntag lade ich dich den ganzen Tag zu mir ein, da bringe ich's dir schon bei.«
»Muß ich dann den ganzen Sonntag stricken lernen?« erkundigte sich Nesthäkchen noch vorsichtig, obwohl ihr Gesicht vor Freude über die Einladung strahlte. Großmama bejahte, aber als sie sich jetzt Annemaries Leibgericht ins Ohr sagen ließ, da wußte Nesthäkchen, daß es nicht allzu schlimm würde. Schokoladenspeise und Stricknadeln, das paßte doch nicht zueinander. Und dann, bei Großmama war alles hübsch, selbst das abscheuliche Stricken!
Des Sonntags in aller Herrgottsfrühe, Hanne und Frieda waren kaum aufgestanden, begann Nesthäkchen schon zu
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