Nesthäkchen 02 - Nesthäkchens erstes Schuljahr
rumoren.
»Fräulein, wir müssen aufstehen, Großmama erwartet mich schon ganz früh, hat sie gesagt.« Als Fräulein Lena mit Anstrengung die müden Augenlider aufschlug, stand Annemarie im Nachthemdchen bereits vor ihrem Bett.
»Willst du dich wohl gleich wieder hinlegen; wenn du dich nicht ganz artig und ruhig verhältst, darfst du überhaupt nicht zur Großmama«, sagte das Fräulein aufgebracht. »
Aber ich muß doch stricken lernen, nachher wird es zu spät.« Betrübt kroch Nesthäkchen wieder ins Bett.
Vater, der den Sonntagmorgenkaffee, wenn seine Zeit es erlaubte, gern etwas länger ausdehnte, um dabei mit der Familie zu plaudern, mußte heute auf sein Nesthäkchen verzichten. Das stand bereits um acht Uhr fix und fertig für den Besuch bei Großmama da. Am Arm hatte es ein Körbchen, in dem das von Tante Albertinchen zum letzten Weihnachtsfest erhaltene Wunderknäuel bereitlag. Das sollte heute eingeweiht werden. »Lotte, die Großmama ist noch gar nicht auf«, meinte Mutti.
»Ach, alte Leute schlafen nicht mehr so gut, Großmama hat es neulich selbst gesagt, da ist sie ganz sicher schon wach!« behauptete die Kleine.
Großmama war aufs freudigste überrascht, als ihr kleiner Besuch schon zu dieser frühen Morgenstunde antrat.
»Du bist wohl jetzt der Nachtwächter von Berlin ?« scherzte sie. »Na, für die Großmama kommst du nie zu früh, Herzchen.« Die alte Dame war noch bei ihrer Morgentoilette.
Fräulein Lena verabschiedete sich, nachdem sie Annemarie noch ermahnt hatte, recht artig zu sein. Nesthäkchen aber sah andächtig zu, wie Großmama sich frisierte.
»Großmama, du hast so niedliche graue Haare, und so kurz sind sie noch wie von meiner Puppe Gerda!« sagte sie voll Bewunderung. Ach, und wie wunderbar Großmama konnte ihren Zopf abnehmen, der war nicht angewachsen! Großmama kämmte und flocht ihn in der Hand.
»Tut dir das weh, Großmama, wenn du den Zopf ziepst?« erkundigte sich Klein-Annemarie.
Großmama konnte vor Lachen kaum den Kopf schütteln.
Aber als die Kleine dann noch einmal mit Großmama auf dem Balkon frühstücken sollte, meinte sie: »Nein, Großmuttchen, dazu haben wir heute keine Zeit, sonst wird's zu spät mit dem Stricken lernen.«
»Herzchen, meinen Kaffee muß ich haben, auf den kann ich selbst dir zuliebe nicht verzichten«, meinte Großmama belustigt. Da zügelte auch Klein-Annemarie ihren Eifer so weit, daß sie sich erst mal eine große Honigsemmel schmecken ließ.
»Nun können wir anfangen, Großmama«, meldete das kleine Mädchen, nachdem es diese Arbeit vollbracht, und griff nach dem Strickkörbchen.
Aber »Halt, Herzchen, halt!« rief die alte Dame. »Wenn du mit klebrigen Honighänden die Arbeit beginnst, kann sie nicht sauber ausfallen. Solche Wunder vermag selbst ein Wunderknäuel nicht zustande zu bringen.«
Die Händchen wurden geseift und gebürstet und die Maschen von Großmama aufgelegt.
»So, jetzt stricken wir zusammen, Herzchen, du sollst mal sehen, wie schön das gehen wird. Also: Einstechen, Faden durchziehen, abheben. Hast du das fertiggekriegt?«
»Ja, Großmuttchen, ich habe sogar noch drei Maschen dazu abgehoben«, rühmte sich Nesthäkchen stolz.
»Nein, Kind, eine ist genug, mehr ist vom Übel.« Großmama holte die drei Ausreißer schnell wieder zurück.
Wieder begann es: »Einstechen, Faden durchziehen, abheben.« Diesmal gelang das Kunststück.
»Jetzt die nächste!« Nesthäkchen saß mit heißen Wangen da und hielt das Strickzeug zwischen den kleinen Fingerchen so fest wie ein Schraubstock.
»Hilde Rabe prudelt noch viel mehr als ich in der Handarbeitsstunde«, erzählte sie, »aber meine Freundin Margot - ach Gott, da ist mir wieder eine Masche ausgerückt!«
»Herzchen, eins kann man nur, arbeiten oder schwatzen«, sagte Großmama, nachdem sie das Unglück wieder gutgemacht hatte. Eine Weile saßen die beiden, Großmama in ihrem Lehnsessel und Nesthäkchen ihr zu Füßen auf dem kleinen Stühlchen, das schon Mutti und Tante Kätchen als Kinder benutzt hatten, eifrig über ihrer Arbeit. Man hörte nur das Klappern der Stricknadeln.
»Großmama - Großmuttchen - «, begann die Kleine nach einer Weile wieder.
Die alte Dame tat, als ob sie nicht höre.
»Großmuttchen, ich langweile mich so gräßlich!« erklang es wiederum, dazu gähnte Klein-Annemarie herzzerbrechend. Das kam aber daher, weil sie morgens so früh Radau gemacht hatte.
»Langweile dich nur ruhig noch ein bißchen weiter, Herzchen, wenn die Nadel
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