Nesthäkchen 03 - Nesthäkchen im Kinderheim
Wittdün. Wie glücklich waren sie, ihr Töchterchen geheilt wiederzusehen. Nach Ablauf der Ferien sollte Gerda mit ihnen nach München heimkehren.
Auch Annemaries Jahr an der Nordsee näherte sich nun seinem Ende. Sie hatte so sehr gehofft, daß ihre Eltern mit Hans und Klaus im Juli ebenfalls kommen würden. In jedem Brief an die Brüder hatte sie schon erzählt, was sie ihnen alles auf der Insel zeigen wollte. Freilich an ihren Abschied von Villa Daheim mochte die Annemarie gar nicht denken. Die Tränen traten ihr in die Augen, sobald man davon sprach. Nesthäkchen, das vor einem Jahr nicht ins Kinderheim wollte, löste sich jetzt schwer von den lieben Menschen und dem frohen Leben am Meeresstrand.
Denn daß die Eltern sie dann gleich nach Berlin mit zurücknehmen würden, war sicher.
Aber es kam anders, als Annemarie es sich ausgemalt hatte. Die Mutter reiste während der Sommermonate nach England, wo sie Verwandte hatte. Auf der Rückreise im September wollte sie dann ihr Nesthäkchen von der Insel Amrum abholen.
Dem Vater hatte das Wandern im Hochgebirge mit seinen beiden Jungen so gut gefallen, daß er wieder mit ihnen nach Tirol zu fahren beschloß. So wurde nichts aus den gemeinsamen Ferien auf Wittdün.
»Wißt ihr's schon, am nächsten Donnerstag ist Kinderfest - da gibt's Schokolade und Kuchen im Kurhaus, und abends machen wir Kinder einen Fackelzug!« Annemarie rief es aufgeregt einigen kleinen Berlinerinnen zu, mit denen sie sich während der Ferien angefreundet hatte.
»Au - fein - dann ziehe ich mein rosa Batistkleid an«, »und ich mein helles Blümchenkleid«, die eitlen kleinen Damen machten einen Luftsprung vor Freude.
»Und Spiele mit Preisverteilungen werden auf dem Kurhausplatz gespielt.«
»Und dann findet ein Burgenwettbewerb statt«, fiel Gerda der Freundin ebenfalls in heller Vorfreude ins Wort. »Wer seine Burg am schönsten schmückt, der wird preisgekrönt und bekommt ein Geschenk!«
»Famos - ich weiß schon, womit wir unsere Burg schmücken werden, aber ich sag's nicht! Doch Gerdachen, dir vertrau ich's an, und auch dem Kurt, wir drei wollen zusammen unsere Burg feinmachen«, die beiden Freundinnen neigten tuschelnd die Köpfe zusammen.
Die kleinen Berlinerinnen und bald auch der große Teil der anderen Kinder begannen ebenfalls eifrig zu beraten, wie man wohl den Preis für die schönste Burg gewinnen könnte. Aus Muscheln, Blumen und Seetang ließen sich in dem weißen Dünensand allerlei nette Figuren legen.
Auch unter den erwachsenen Badegästen am Strand und auf der sogenannten »Trampelbahn« sah man aufgeregte, eifrig beratende Gruppen. Aber deren Überlegungen galten nicht dem Kinderfest und dem Burgenwettbewerb. Die waren ernsterer Natur. Grenzzwischenfälle verdichteten das Gerücht eines bevorstehenden Krieges. Sollte man abreisen oder bleiben - keiner wußte, was das Richtige war.
Die spielenden Kinder unten am Strand ahnten nichts von der Gefahr, die ihrem Vaterlande drohte. Die schnappten wohl aus den Gesprächen der Großen mal das Wort »Krieg« auf, aber sie verstanden es gar nicht. »Krieg«, den gab's bloß in der Geschichtsstunde, allenfalls noch zwischen den Geschwistern daheim.
Immer heißer brannte die Sonne vom Himmel herab. Aber all ihr Flimmern und Gleißen nützte nichts - eine Familie nach der anderen reiste in dieser letzten Augustwoche nach Haus. Alles Jammern der Kinder, die das bevorstehende Kinderfest nicht mehr mitmachen konnten, auf das sie sich so gefreut hatten, war umsonst.
Zuerst waren es nur die ganz ängstlichen Gemüter, die Reißaus nahmen. Aber die meisten Familien hielten schon heimlich ihre Koffer gepackt und warteten nur auf Telegramme aus der Heimat, die sie zurückriefen. Von Tag zu Tag wuchs die Zahl der Abreisenden. Die Mittagstafeln in den Hotels wurden kleiner und kleiner. Die Post wurde umlagert, ebenso das Lesezimmer, in dem die neuesten Zeitungsnachrichten auslagen.
Mit ziemlich verständnislosen Augen blickten die Kinder in das aufgeregte Treiben. Ihr Denken galt nur noch dem Burgenwettbewerb und dem Kinderfest.
Annemarie, Gerda und Kurt hatten einen wunderhübschen Einfall. Eine kleine friesische Bauerndeern mit einer Gänseherde legten sie auf den Burgwall aus weißen, blauen, rosa und gelblichen Muscheln. Die Gerte, mit der die kleine Deern die Gänse vor sich hertrieb, wurde kunstvoll aus Seetang gefertigt. Kurt war besonders erfinderisch, Gerda wußte nach seinen Angaben die Muscheln ganz hübsch zu legen.
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