Nesthäkchen 03 - Nesthäkchen im Kinderheim
Dampfer nach dem Festland. Von morgen an hatte die Regierung alle Schiffe beschlagnahmt.
»Was machen wir denn nun bloß, Tante Lenchen -müssen wir nun für immer in Wittdün bleiben?« Nesthäkchen war dem Weinen nahe.
»Wir müssen unbedingt heute noch fort -wenn wir nach Hause kommen, essen wir sofort Abendbrot, und ihr legt euch schlafen. Um halb zwölf müßt ihr schon wieder aufstehen«, erklärte Tante Lenchen hastig.
»Ach, du heiliger Bimbam, wenn ich nun nicht aufwache? Dann muß ich ja allein hierbleiben.«
»Ich wecke dich schon zur Zeit, Herzchen«, beruhigte Tante Lenchen das aufgeregte Kind. Aber sie selbst war nicht viel ruhiger.
Keins der Kinder konnte heute Abendbrot essen vor lauter Unruhe. Dabei gab es die beliebte rote Grütze. Frau Clarsen schickte die drei sofort ins Bett, aber es dauerte lange, bis die kindlichen Gemüter sich soweit beruhigt hatten, um Schlummer zu finden.
»Also heute schlafe ich das letzte Mal auf Wittdün -lieber Gott, laß mich bloß nicht verschlafen - ach du Himmel, ich hab' ja ganz vergessen, Mutter Antje und Vadder Hinrich Lebewohl zu sagen - also drei Stück Handgepäck habe ich: mein Täschchen, mein Regenschirmchen und meine Gerda« - und da schlief Nesthäkchen endlich.
Inzwischen trafen Frau Clarsen und Fräulein Petersen die letzten Vorbereitungen zur Reise. Sie füllten die Frühstückstaschen der Kinder mit belegten Broten. Da keins Abendbrot gegessen hatte, würden sie sicher unterwegs Hunger bekommen. Auch in ihre eigenen Handtaschen packten die Frauen harte Eier, kalten Braten, Obst und eine Flasche Milch. Wer konnte denn wissen, ob sie auf der Reise etwas zu essen bekamen. Dann mußte das Haus versorgt werden. Die beiden Mädchen, Dörthe und Line, gingen in das Dorf Nebel zu ihren Eltern zurück.
Modder Antje und Vadder Hinrich blieben im Friesenhäuschen und hatten ein Auge auf Villa und Garten. Denn Frau Clarsen und Tante Lenchen beabsichtigten während der Kriegsdauer bei ihrem Bruder, der ein Gut in Westfalen hatte, Aufenthalt zu nehmen. Keiner konnte wissen, wie lange sie ihrem lieben Hause am Nordseestrand fernbleiben mußten - vielleicht monatelang.
Die beiden Damen begaben sich gar nicht mehr zur Ruhe. Um halb zwölf weckten sie die Kinder. Kurt war gleich wach. Annemarie konnte sich gar nicht ermuntern und bat flehentlich, sie doch noch ein bißchen schlafen zu lassen. Aber das ging heute nicht. Klein-Annekathrein weinte sogar vor Müdigkeit.
»Ihr könnt euch Zeit lassen und noch ganz in Ruhe Kakao trinken«, sagte Frau Clarsen zu den Kindern, die, nachdem sie die erste Müdigkeit überwunden hatten, nach kurzer Zeit ganz angezogen mit ihren Handgepäckstücken unten erschienen.
Da pochte es an die Tür. Es war Vadder Hinrich.
»Fru Kaptän«, selbst der Alte hatte seine gleichmütige Ruhe heute nicht ganz, »ick wollt man seggen (sagen), dat de Landungsbrück' unten all swart (schon schwarz) von Menschen is. Un wenn de Fru Kaptän allüwerall (überhaupt) noch mitkummt, dann möten Se 'n büschen fixing tau maken (müssen Sie ein bißchen fix zumachen)!«
»Fort - habt ihr euer Handgepäck, Kinder - Gott befohlen, Line und Dörthe. Vadder Hinrich, Sie fahren wohl den Kurt im Rollstuhl zur Landungsbrücke hinunter - nur schnell, schnell -« da schlug schon die Tür von Villa Daheim hinter den Davoneilenden zu.
An der Gartenpforte erwartete sie Mutter Antje, trotz der mitternächtigen Stunde. Die treue Alte ließ es sich nicht nehmen, die beiden Damen und ihre kleinen Freunde zur Abfahrtsstelle zu begleiten.
Es war eine wunderbare Mondnacht. In lichtgrünem Schimmer glänzte das Meer, flüssiges Silber goß der Mond über die leichtbewegte See. Annemarie war noch nie zu so später Stunde draußen gewesen. Wie gespenstisch die weißen Dünen im Mondenschein aussahen. Wieder mußte Annemarie an die Wittdüner Sage von Silberhärchen denken. Aber sie hatte nicht viel Zeit, solchen Gedanken nachzuhängen. In rasender Eile ging es hinunter zur Landungsbrücke. Die wimmelte bereits von Menschen, Kindern und Gepäckstücken. Wo kamen bloß all die Leute noch her, es waren doch schon so viele abgereist?!
Kurt hob man aus dem Rollstuhl. Vor Aufregung konnte er keinen Schritt gehen.
»Laten Se man, ick trag' ihn 'n büschen nach vorn, bet (bis) an de Spitz von de Landungsbrück', Fru Kaptän.« Vadder Hinrich bahnte sich einen Weg durch die Menschenflut. Die ließ den Knaben auf dem Arm des Lotsen und die weißhaarige Frau Clarsen auch
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