Nesthäkchen 04 - Nesthäkchen und der Weltkrieg
überglücklich.
Freundin Margot, die peinlich pünktliche, hörte nicht mehr. Die lief schon voraus, um nicht zu spät zur Schule zu kommen. Annemarie aber konnte sich von ihrem kleinen Pflegling nicht so schnell trennen. Als sie sich endlich zum Weitergehen entschloß, holte sie Margot, trotzdem sie lange Schritte machte, nicht mehr ein.
Himmel - da schlug die Uhr schon drei, der Nachmittagsunterricht hatte bereits begonnen. Fräulein Drehmann würde mit Recht ärgerlich sein und ihre Entschuldigung, daß sie sich mit dem Pflegekind des Junghelferinnenbundes versäumt habe, nicht gelten lassen. Noch dazu schrieb man ja Klassenaufsatz!
Annemarie begann zu rennen. Ohne rechts und links zu blicken, lief sie in das rote Schulhaus, jagte die Treppe hinauf und öffnete die Tür zur sechsten Klasse.
Entsetzt prallte sie zurück.
Statt der über die Aufsatzhefte geneigten Mädchenköpfe sahen sie lachende Soldatenaugen an. Überall aus Bänken und Tischen hockten Feldgraue, putzten ihre Stiefel, bürsteten ihr Zeug und sangen dazu Vaterlandslieder.
Aber beim Anblick des bestürzten Blondkopfes verstummten dieselben. »Na, Fräuleinchen, willst du uns helfen?« schallte es ihr lachend entgegen.
Annemarie faßte sich an die Stirn. Hatte sie sich verlaufen, war sie in die unweit von der Volksschule gelegene Kaserne geraten? Nein, dort hing ja noch die Landkarte von Afrika, die sie gestern benutzt hatten.
»Wo sind denn bloß die Schülerinnen alle hingekommen, und wieso sind denn setzt Soldaten hier?« Doktors sonst so schlaues Nesthäkchen fand sich heute durchaus nicht zurecht.
»Wir sind eure neuen Lehrer, wir sollen die kleinen Mädchen im Exerzieren eindrillen«, lachte ein Witzbold. Die anderen lachten mit. Einem aber, einem braven, älteren Landwehrmann, der selbst Kinder zu Hause hatte, tat das verdutzte kleine Mädel leid.
»Nee, Mäuschen, laß dir nichts weismachen. Die Schule ist Hals über Kopf zur Kaserne umgewandelt worden, weil nicht genügend Unterkunft war. Nu werden wir statt eurer hier fleißig sein…«
»Ja - aber - wo sind denn bloß die andern?« Annemarie fing beinahe an zu weinen.
Die Leute zuckten die Achseln. »Wahrscheinlich wieder nach Haus gegangen. Ihr seid ja schon klug genug, Kinder - ach was, im Krieg braucht man überhaupt nichts zu lernen« - so scherzten sie durcheinander.
Doch der sonst so lustigen Annemarie war es heute ganz und gar nicht spaßig zumute. Das kam davon, daß sie sich so verweilt hatte. Aber wenn die Kinder nach Hause geschickt worden wären, hätte sie dieselben doch treffen müssen. Margot, die den gleichen Schulweg hatte, doch ganz bestimmt. Die Tränen, die das kleine Mädchen mit Gewalt zurückhielt, begannen jetzt doch zu stießen. Das Taschentuch mußte in Tätigkeit gesetzt werden. Wo nun hin?
Ringsum Soldaten. Aus allen Klassen, aus allen Korridoren klangen ihre Lieder. Unten im Hof, wo sich die Kinder sonst in den Pausen ergingen, wuschen sie am Brunnen ihre Drelljacken. Zögernd stand Doktors Nesthäkchen am Eingangstor. Sollte es einfach die Schule schwänzen und heimgehen? Bei all ihrem Übermut war Annemarie eine fleißige Schülerin, das brachte sie nicht fertig.
Langsam schlenderte sie der Ecke zu. Dort lag das Gymnasium der Brüder. Die waren längst aus der Schule.
Nanu - aus dem Schulhof klangen ja Stimmen, das summte und surrte doch genau so wie in der Zwischenstunde bei ihnen in der Schule. Dabei war doch heute Mittwoch, da hatten die Jungen keinen Nachmittagsunterricht. Neugierig versuchte das kleine Mädchen durch die geöffnete Haustür einen Blick in den Schulhof zu werfen.
Ja - waren denn das nicht blaue, rote und weiße Mädchenkleider, die da durch die Spalte schimmerten?
Annemarie pirschte sich ausgeregt näher heran.
Da fühlte sie sich plötzlich an ihrem Zöpfchen gepackt.
»Na, wer ergeht sich denn hier draußen, anstatt drin im Hof, wie es die Schulordnung vorschreibt?« Das war die heisere Stimme des alten Herrn Professor Herwig, der den Herrn Direktor vertrat.
Annemarie erschien seine wenig melodische Stimme wie Engelsgesang.
»Ach, Herr Professor, können Sie mir nicht sagen, wo unsere Schule hingekommen ist? Ich kann sie gar nicht finden, in allen Klassen sind Soldaten!« sagte Annemarie mit tiefem Knicks.
»Wo die Schule hingekommen ist?« - der Herr Professor lachte. »Das nenne ich aber in der Tat den Wald vor Bäumen nicht sehen. Ja, hörst du denn nicht den Lärm der Zwischenstunde?« Der alte Herr machte
Weitere Kostenlose Bücher