Nesthäkchen 04 - Nesthäkchen und der Weltkrieg
mitbringen müssen. Stattliche bunte Teller waren aus diesen kleinen Beiträgen entstanden.
Noch einen Blick ließ Annemarie durch ihre Stube wandern. Seit ihrem Aufenthalt im Kinderheim hatte sie sich daran gewöhnt, nie ihr Zimmer zu verlassen, ohne zu sehen, ob darin auch nichts herum lag. Nein - es war alles schön ordentlich. Ganz hinten in der Ecke hatte sie ihre Weihnachtsgeschenke versteckt und darüber Puppenstube gestülpt. Dort würde sie keiner finden. Annemarie griff nach ihren vielen, vielen Paketen und Päckchen. Wie sollte sie die nur fortbringen? Hanne hatte noch zu tun, und Klaus, der ihr hätte tragen helfen können, war selbst mit seinem Lehrer zu einer Lazarettbescherung. Fräulein putzte im Wohnzimmer mit Großmama den Baum.
Aber Nesthäkchen war nie um einen Ausweg verlegen. Es holte sich aus dem Schrank der Brüder den großen Rucksack von Bruder Hans, da ging alles hinein.
Potztausend - aber schwer war er! Doch trugen die Soldaten auf ihren anstrengenden Märschen nicht schwereres Gepäck auf dem Rücken? Na, also! Rasch fort, Margot wartete sicher schon unten.
Ja, an dem Gitter des verschneiten Vorgärtchens stand bereits die Freundin neben einem weißen Kinderwagen. Die nahm doch nicht etwa ihr kleines Schwesterchen mit?
Nein, Annemarie mußte lachen. Der Kinderwagen war vollgestopft mit Liebesgaben. Auch Margot lachte beim Anblick der Freundin. »Willst du eine Gletschertour machen, Annemarie?« fragte sie, auf den Rucksack weisen.
Alle beide keuchten sie unter ihrer Last. Aber was wog die gegen das erhebende Gefühl, den verwundeten Kriegern eine Weihnachtfreude zu machen.
Nun waren sie alle in dem ehemaligen Schulhof versammelt. Viele der kleinen Mädchen hatten ihren Puppenwagen zum Transport der Gaben benutzt. Hilde Rabe war sogar, trotz des Tauwetters, mit ihren Kinderschlitten vorgefahren.
»Was, die ‚Polnische‘ ist auch dabei?« Annemarie fragte es so laut, daß die unweit mit ihrem Gabenkörbchen stehende Vera zusammenzuckte.
Stimmte denn der Weihnachtsabend, der die Menschen besser machen soll, an dem sie sich nur Liebes erweisen, nicht auch die Herzen der kleinen Mädchen milder?
Nein, die Schülerinnen der sechsten Klasse, die so viel Mitleid mit den Verwundeten hatten, verwundeten selbst heute das Herz der armen Vera durch abweisende Blicke und unfreundliche Worte. Allen voran wieder Doktors Nesthäkchen.
»Wenn Fräulein Hering wüßte, was wir wissen, würde sie Vera bestimmt nicht mit ins Lazarett nehmen - wie leicht kann sie da spionieren«, flüsterte Annemarie ihren Getreuen zu.
Zum Glück blieb keine Zeit, sich weiter mit Vera Burkhardt zu befassen. Die Kinder wurden in die tannengeschmückte einstige Schulaula geführt, wo ein großer Weihnachtsbaum blitzte und funkelte. Auf der langen Tafel darunter lagen die Heimatspakete für jeden Krieger.
Ein wenig schlug den kleinen Mädchen das Herz, als die Verwundeten in ihrem blau-weiß gestreiften Anzügen jetzt in den Saal betraten. Fröhliche Jugend bedrückt Krankheit und Elend. An Stöcken und Krücken schoben sie sich herein, am Arm der Schwestern, auf Tragbahren und im Stoßwagen wurden sie hineingebracht.
Margot griff erregt nach Annemaries Arm. Unsagbar leid taten ihr die Ärmsten, die nicht einmal die Weihnachtslichter erstrahlen sahen. Auch Annemaries Blauaugen feuchteten sich - und gleichzeitig fühlte sie tiefe Beschämung. War sie sich nicht den ganzen Tag bemitleidenswert erschienen, daß sie heute ohne Vater und Mutter Weihnachten feiern mußte? Und wie glücklich war sie doch im Vergleich zu diesen Armen ringsum, die auch fern von ihren Lieben den Heiligabend begingen!
Trotz der Schmerzen, die sie erdulden mußten, sahen die bleichen Gesichtern zufrieden und dankbar aus. Der deutsche Soldat zeigt nicht nur im Kampfe seinem opferfreudigen Mut, sondern auch dem unerbittlichen Schicksal gegenüber.
Von dem brennenden Weihnachtsbaum gelitten die Blicke der verwundeten Krieger zu der blühenden Kinderschar, die zu beiden Seiten Aufstellung genommen. Da verklärten sich die Minen. Jedem war es, als ob die eigenen Blondköpfe oder das kleines Schwesterchen daheim auf die Bescherung warteten. Einer der Ärzte setzte sich ans Klavier, und ‚Stille Nacht, heilige Nacht‘, die Klänge des Weihnachtsliedes, zauberten den in der Fremde Weihnacht Feiernden die Heimat vollends vor. Tiefe Männerstimmen mischten sich mit den Hellen der jungen Kinder. Da blinkte manche Träne im rauhen Kriegerauge - und
Weitere Kostenlose Bücher