Nesthäkchen 04 - Nesthäkchen und der Weltkrieg
die ‚Polnische‘ hatte die auch bloß nicht gehorcht?
Die Lehrer und Lehrerinnen waren freundlich und lieb zu der kleinen heimatlosen Fremden, die sich jetzt viel Mühe während des Unterrichts gab. Anstatt sich an ihnen ein Beispiel zu nehmen, überlegten die Kinder, ob sie es den Lehrern nicht mitteilen müßten, das Vera eine russische Spionin sei. Aber keiner wagte es, nicht mal die kecke Annemarie Braun.
Die hatte längst keine Gewissensbisse mehr wegen Vera. Im Gegenteil, wo sie nur konnte, zeigte sie ‚der Spionin‘ ihre Verachtung. Als sie am ersten Dezember von einer zur anderen schritt, um den Monatsbeitrag für den Junghelferinnenbund einzuziehen, streckte ihr auch Vera ihre fünfundzwanzig Pfennige entgegen. Annemarie ging vorüber, als ob sie Veras Hand nicht sähe.
Da trat das schwarzlockige Mädchen in der nächsten Zwischenstunde zu Annemaries Platz.
»Ich noch nicht haben gezahlt«, sagte sie leise, das Geld Annemarie in die Hand gebend.
Die ließ es fallen, als habe sie glühendes Eisen berührt. »Von dir nehme ich nichts, du gehörst nicht zu unserem Junghelferinnenbund - nur deutsche Mädchen dürfen Mitglied sein!« rief sie und sah sich stolz in der Klasse um.
Die anderen lachten und nickten ihr Beifall zu. Das war recht, daß die Annemarie Braun es der Spionin mal ordentlich gezeigt hatte, wie man über sie dachte.
Vera waren die Tränen in die Augen geschossen - still wandte sie sich ab.
War sie denn kein deutsches Mädchen? Bloß weil sie deutsch war, hatte sie doch vor den russischen Soldaten aus der Heimat flüchten müssen. Ihr Vater kämpfte doch freiwillig für Deutschland, wie die Väter der anderen Kinder. Allerdings, sie sprach fast nur polnisch, als sie in die Schule kam; aber sie hatte doch von den Dienstboten in Czernowitz nichts anderes gehört.
Soviel die arme Vera auch überlegte und grübelte, sie verstand nicht, warum sie als einzige nicht zum Junghelferinnenbund gehören sollte. Nur die grenzenlose Verachtung, welche Annemaries Worte offenbart hatten, begriff sie, und die machten das Herz des armen Kindes niedergedrückt und traurig.
Dabei war es doch der Monat, in dem Kinderherzen ganz besonders freudig zu schlagen pflegten. Aber er zeigte diesmal im Kriegsjahr ein ernsteres Gesicht als sonst, der schöne Weihnachtsmonat. Da war wohl keine Familie, die nicht ein liebes Mitglied im Kampfe draußen hatte, war es nun zu Land, zu Wasser, oder hoch oben in den Lüften. Und wie vielen hatte schon der Krieg für immer grausam das Liebste geraubt. Manche schwarzverschleierte Frauengestalt sah man in den Straßen.
Da war es kein Wunder, wenn auch die Freude der Kleinen in diesem Jahre gedämpfter war. Aber sie war vielleicht tiefer als in jedem anderen. Weder Annemarie noch ihre Freundinnen schrieben diesmal Weihnachtswünsche - alle hatten sie auf ihre Weihnachtsgaben Verzicht geleistet und gebeten, für das Geld lieber Pakete ins Feld schicken oder den armen Verwundeten eine Weihnachtsfreude machen zu dürfen.
Das Schubertsche Mädchenlyzeum hatte Berge von Soldatenpaketen an die Front geliefert. Die fleißigen Mädchenhände hatten sich alle die Monate für die Vaterlandsverteidiger bemüht. Dicke Teppiche aus Zeitungspapier im Friesüberzug waren für die in der Feuchtigkeit der Schützengräben Liegenden angefertigt. Warme ‚Stieglitzdecken‘, aus lauter bunten Wollresten gestrickt, hatte eine jede gearbeitet. Strümpfe, Schals, Kopf-und Lungenschützer, Pulswärmer, Handschule und Leibbinden - unendlich viele an der Zahl. So hatte jede Schule in jeder deutschen Stadt ihr Teil zugesteuert - überall hatten deutsche Frauen und Mädchen für ihre Soldaten getreulich geschafft.
Es tat aber auch Not. Sowohl in Polens eisigen Ebenen als auch in den verschneiten Argonnenwäldern. In der Gletscherwelt der Karpathen, wie an der sturmgepeitschten flandrischen Küste, und nun erst gar draußen auf offenem Meer.
Doktors Nesthäkchen hatte ihre Weihnachtspakete vorwiegend an die Marine gesandt. Annemarie wußte von ihrem Nordseeaufenthalt her, was es hieß, solche Wintersturmnacht auf hoher See. An jedes Paket waren mit schwarz-weiß-rotem Bändchen Schokolade, Tabak und Zigaretten gebunden. Die Strümpfe wurden mit Äpfeln, Nüssen und Pfefferkuchen gefüllt. Die Hauptsache aber für die Kinder war die Wohlfahrtkarte, die sie, mit Ihrer Adresse versehen, beigefügten. Damit man doch wußte, wer denn eigentlich die Strümpfe oder den Kopfschützer trug, mit dem man
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