Nesthäkchen 04 - Nesthäkchen und der Weltkrieg
sich wochenlang gemüht hatte. Die Dankkarten der erfreuten Soldaten waren dann später reicher Lohn.
An Vater war ein riesengroßes Paket abgegangen. Eigentlich hoffte man im Braunschen Hause, daß der Vater zu Weihnachten Urlaub erhalten würde. Annemarie aber hatte noch eine ganz andere Hoffnung. Sie redete sich bestimmt ein, daß Mutti zu Weihnachten endlich wiederkommen würde. Es war ja gar nicht denkbar, daß sie am Heiligabend von ihren Kindern fort blieb. Voriges Jahr hatte das kleine Mädchen zwar auch ohne die Eltern Weihnachten feiern müssen, aber da war sie selbst fern im Kinderheim gewesen. Dort hatte sie es weniger empfunden. Aber dieses Jahr zu Hause - nein, nein, Mutti mußte ja kommen!
Großmama war bescheidener in ihren Wünschen; die wäre schon froh gewesen, wenn nur endlich mal irgendeine Nachricht eingetroffen wären. Inzwischen suchte sie in rührendster Weise in Gemeinschaft mit Fräulein den Kindern einen schönen Weihnachtsabend zu bereiten. Sie hatten zwar alle drei auf ihre Geschenke verzichtet. Aber gibt es eine Großmutter, die es übers Herz bringt, die Enkelkinder am Heiligabend leer ausgehen zu lassen?
Der Weihnachtsabend des großen Kriegsjahr senkte sich leis über die wild gegeneinander wütende Welt. Tobte selbst heute der blutige Kampf? Nein, still war's fast überall an der Front. Statt aufblitzender Granaten flimmerten durch den Schneewald helle Lichterbäumchen - statt des Geknatters der Maschinengewehre zogen fromme Lieder aus rauhen Männerkehlen durch die Winternacht. Deutsche Soldaten feierten im Schützengraben Weihnacht.
Mit wehmütigen Augen stand im Feldlazarett Doktor Braun vor der großen Heimatskiste. Mit wieviel Liebe war sie gepackt, wie war ein jedes darauf bedacht gewesen, ihn zu erfreuen. Sein Nesthäkchen - was hatte es nicht alles für ihn gearbeitet! Sogar einen Muff hatte es für ihn gestrickt. Doktor Braun lächelte. Seine Lotte schien sich so ein Feldlazarett mitten im Schützengraben vorzustellen, dabei war es wohlig warm in den geheizten Räumen. Aber seinen wieder hinausziehenden Verwundeten würden die Sachen zustatten kommen.
Wie gern hätte der Vater auf all die Liebesgaben verzichtet, wenn er sein Nesthäkchen statt dessen wie früher auf sein Knie hätte ziehen können. Sein Blick fiel auf das schwarz-weiße Bändchen, das seit heute sein Knopfloch schmückte. Als Weihnachtsgabe hatte man ihm das eiserne Kreuz für seine unermüdliche Tätigkeit Tag und Nacht überreicht. Aber wo blieb die Freude, die er dabei hätte empfinden müssen? Ja, wenn die, mit der er bisher alles getreulich geteilt, wenn seine Frau an seiner Freude hätte teilnehmen können. Doch er wußte nicht mal, ob die Mitteilung davon sie erreichen würde - ob sie überhaupt schon irgendeine Nachricht von ihm erhalten hatte. Es war geradezu schleierhaft, warum weder sie, noch einer der Verwandten schrieb.
Der Blick des Arztes glitt in die Vergangenheit zurück zu früheren Weihnachtsabenden. Er sah den lichtfunkelnden Baum daheim im Wohnzimmer, er hörte den Jubel seiner Kinder. ...
Da - gab es einen ohrenbetäubenden Krach. Die Fensterscheiben zersprangen klirrend. Der Instrumentenschrank tanzte. Schwestern und Sanitäter kamen mit bleichen Gesichtern in das Zimmer des Chefarztes gestürzt: »Herr Stabsarzt - eine französische Fliegerbombe - sie scheint es auf unser Lazarett abgesehen zu haben - zum Glück ist sie fehlgeschlagen«
»Bande - der nicht mal das Rote Kreuz am Weihnachtsabend heilig ist!« Doktor Braun stieß es entrüstet hervor. Dann eilte er zu seinen Verwundeten.
Während die Gedanken des Arztes aus dem fernen Feldlazarett in Frankreich den Weg heimwärts nahmen, dachte auch sein Nesthäkchen lebhaft dorthin. Der Vater hatte keinen Urlaub erhalten - grenzenlos enttäuscht war Annemarie. Aber wenn sie es sich richtig eingestand, war sie noch viel enttäuschter, daß der Zeiger ihrer weißen Kinderstubenuhr sich von Zahl zu Zahl schob, ohne daß die sehnlichst erwartete Mutter heimgekehrte.
Schon war es vier, jetzt mußte sie sich zur Weihnachtbescherung im Schullazarett rüsten. Um halb fünf sollten sich die Schülerinnen der sechsten Klasse mit ihren Weihnachtpäckchen vor dem ehemaligen Schubertschen Lyzeum einfinden. Fräulein Hering, welche die Führung übernommen, erwartete sie dort.
Jede Klasse bescherte einem anderen Lazarett, manche auch einem Kriegeskinderhort. Dazu hatte jede Schülerin einen Pfefferkuchen, einen Apfel und eine Nuß
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