Nesthäkchen 04 - Nesthäkchen und der Weltkrieg
vom Optiker einsetzen lassen, weil ich deine Nummer nicht wußte«, erklärte Annemarie.
Solange konnte Großmama unmöglich mit dem Studieren des Briefes warten. Hans erbot sich, ihn vorzulesen. Fräulein hüllte inzwischen die vor Kälte und Erregung zitternde Annemarie in eine warme Schlafdecke.
»Geliebte Mutter, meine lieben, lieben Kinder«, begann Hans zu lesen. »Soeben erhalte ich euer Schreiben über Holland, daß wochenlang unterwegs gewesen sein muß. Zu meiner größten Bestürzung ersehe ich daraus, daß Euch keiner meiner vielen Nachrichten bisher erreicht hat, und Ihr Euch Sorgen um mich gemacht habt. Ich habe mindestens zweimal die Woche an Euch geschrieben, manchmal auch öfters. Denn daß ich mit meinen Gedanken unausgesetzt bei Euch weile, könnt Ihr Euch denken. Auf meine Bitten hat Vetter Charles Edward Nachforschungen gehalten, woran es liegt, daß meine Briefe nicht an Euch gelangen, da doch Post von hier nach Deutschland geht. Genaues hat auch er nicht erfahren können. Nur soviel, daß ich wohl meinen Empfindungen und Wünschen für unser treues Deutschland allzu deutlich darin Ausdruck verliehen habe, ohne daran zu denken, daß jeder Brief, der aus England herausgeht, einer Prüfung untersteht. Der Vetter meint, es wäre ganz sicher, daß meine Briefe von der Zensur angehalten und nicht weiterbefördert seien. Eine andere Erklärung gibt es nicht. Darum will ich diesmal alles, was ich fühle, in mich verschließen, damit dieser Brief durchgelassen wird. Ich werde mich darauf beschränken, Euch die Tatsachen zu wiederholen, von denen ich annahm, daß Ihr sie längst kennt.
Die Kriegserklärung kam so überraschend für uns, die wir in unserer ländlichen Einsamkeit kaum die Zeitung lasen, daß sie Cousine Annchen und mich doppelt erschreckend traf. Ich war ganz krank vor Aufregung und wollte natürlich sofort heimreisen. Jedoch die Angst um Euch, besonders um meine kleine Lotte, die ich allein an der Nordsee wußte, und um meinen Mann, der ja gleich mit ins Feld mußte, verschlimmerte meinen Zustand derart, daß ich hoch zu fiebern begann. Tagelang lag ich bewußtlos, und als ich endlich erwachte, war die Frist, in welcher es den deutschen Frauen zustand, England zu verlassen, verstrichen. Ihr könnt Euch denken, wie unglücklich ich war, in dieser großen Zeit Euch fernbleiben zu müssen. Wenn auch der Vetter durchaus rücksichtsvoll gegen mich ist, er ist Engländer und hofft auf den Sieg seines Volkes, wie ich auf den des unserigen. Auch für Cousine Annchen, die von Geburt und im Herzen Deutsche, durch ihre Heirat aber Engländerin geworden, ist es schwer. Die Ärmste wird hin und hergerissen von entgegengesetzten Empfindungen. Wie furchtbar ich es empfinde, diese Tage, in denen alle Kräfte einer deutschen Frau dem Wohl der Allgemeinheit gehören, untätig in Feindesland zubringen zu müssen, könnt Ihr Euch nicht vorstellen. Ich hoffe auf die nächste Gelegenheit, wenn wieder Deutsche hinübergelassen werden. Gott gebe, daß dies sehr bald ist - denn ich sehne mich halb krank nach Euch und dem Vaterland.
Auch von Euch habe ich nur spärlich Nachricht erhalten. Vielleicht sind aus demselben Grunde, aus dem meine Briefe von der Zensur zurückgehalten wurden, die Euren nicht hineingelassen. Was bisher an mich gelangt ist, sind außer dem letzten Brief über Holland nur die Ansichtskarten der Kinder. Daraus weiß ich wenigstens, daß Ihr gesund heimgekehrt seid, und das Du, geliebte Mutter, Dich meiner verwaisten Küken so getreulich annimmst. Innigsten Dank für alle Deine Liebe! Daß unser Fräulein Dich unterstützt, ist mir eine Beruhigung. Hoffentlich sorgt auch meine kleine Lotte, soviel es in ihren Kräften steht, für die liebe Großmama, und mein lebhaftes Kleeblatt, besonders Klaus und Annemie, machen ist dir nicht allzu schwer, liebste Mutter! Sehr froh bin ich, daß Ihr, meine lieben Kinder, trotz Eurer Jugend, auch teilhabt an der großen Aufgabe unseres Volkes. Besonders über mein Nesthäkchen, daß so eifrig für die Krieger strikt, habe ich mich recht gefreut. Wie Bange ist mir nach meiner kleine Lotte, die ich fast anderthalb Jahre nicht gesehen. Aber will's Gott, darf ich bald wieder bei Euch sein. In meinen Gedanken bin ich es schon jetzt. Hoffentlich höre ich weiter Gutes vom Vater und von Euch. Meine innigsten Wünsche für alle und für alles fliegen mit diesem Brief nach Deutschland. Möge er sein Ziel endlich erreichen! Seid aufs innigste umarmt
von Eurer
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