Nesthäkchen 04 - Nesthäkchen und der Weltkrieg
Bei Brauns wog Hans jetzt mit peinlichster Genauigkeit jede Schnitte auf der Briefwaage ab, daß nur keiner mehr Gramm Brot verzehrte als ihn zukam.
»Hanne, Ihre Stullen sind viel zu dick, Sie essen ja allein hundertfünfzig Gramm abends, wie wollen Sie denn da den ganzen Tag mit Ihrem Brotanteil ausreichen«, stellte er der Köchin vor.
Aber da kam er dabei Hanne an die richtige.
»Ich will Ihn' mal was sagen, junger Herr, ich esse keene Gramms nich, ich esse meine Stullen und schere mich den Deibel drum, wieviel die wiegen, Und wer mich deshalb für 'ne schlechte Patriotin hält, dem jeb ich zur Antwort: Meine paar Ersparnisse hab' ich jern für's Vaterland und für unsere Krieger jeopfert, aber von wejen meine Stullen, was jehen mir denn die Engländer an!«
»Aber Hanne, doch nicht wegen der Engländer, um unserer deutschen Frauen und Kinder Willen sollen wir sparsam sein und unsere Vorräte strecken«, jeden Tag hielt der Obersekundaner der Küchenfee einen derartigen Vortrag, wenn sie zuviel Fett an die Speisen tat. Aber stets mit dem gleichen Erfolge, daß Hanne ihm ungeduldig den breiten Rücken kehrte.
Klaus aber, der Frechdachs, foppte sie obendrein: »Wenn ein noch größeres Geschütz als unsere Zweiundvierziger Mörser erfunden wird, dann heißt es nicht mehr die ‚dicke Berta‘, sondern Ihnen zu Ehren sicher die ‚dicke Hanne‘!«
Auch Großmama war den Brotkarten nicht sehr hold. Das Alter gewöhnt sich ja schwerer an Neues, als die Jugend. Sie hatte immer einen reichlichen Haushalt geführt, und nun konnte sie nicht mal soviel trocken Brot kaufen, wie sie wollte! Ja, es wurde sogar knapp im Haus, denn Kläuschens Magen vergaß allmählich seinen Patriotismus und stieg wieder zu fünf Stullen abends empor. Großmama entzog es sich lieber selbst als den Kindern. Aber es war ihr ganz ängstlich, so bei jedem Stück Brot, jedem Viertel Mehl überlegen zu müssen. Und Hans machte sie mit seinem Abwiegen und Berechnen von Gramm vollends wüst im Kopf.
Was war das jetzt für eine Zeit, manchmal fand sich Großmama überhaupt nicht mehr darin zurecht.
Fast in jeder Woche kamen die Enkel mit einem anderen Anliegen aus der Schule heim.
»Großmuttchen, hast du noch Gold?« erkundigte sich Nesthäkchen eines Tages.
»Leider schmilzt es bei den Kriegspreisen jetzt sehr zusammen«, scherzte Großmama.
»Du darfst aber gar kein Gold mehr haben, Großmuttchen, wir müssen alles Gold, was wir zu Hause auftreiben können, zur Schule mitbringen und Papiergeld dafür in Empfang nehmen.«
»I, fällt mir ja nicht im Traume ein«, wies Großmama die Kleine energisch ab.
Als vorsorgende und ängstliche Frau hatte die sich soviel Geld als möglich in Gold zurückgelegt. Gold behielt immer seinen Wert, selbst wenn das Papiergeld wertlos war. Und das sollte sie jetzt fortgeben? Das wäre doch mehr als leichtsinnig!
Aber Großmama rechnete nicht mit der Ausdauer und Beredsamkeit ihrer drei Enkel. Da kam der Klaus und trompetete durchs Haus: »Wer sein Gold nicht an die Reichsbank abliefert, versündigt sich am Vaterland!« Da hielt der Hans täglich ellenlange Vorträge, weshalb und warum es notwendig sei, alles Gold in den Staatsdienst zu stellen, daß Großmama allmählich mürbe wurde. Den Rest aber gab ihr Nesthäkchen mit seinem zärtlichem Bitten, Streicheln und Küssen. Das Schmeichelkätzchen setzte es zuerst durch, daß Großmama ihr fünf Goldstücke zur Ablieferung an die Schule einhändigte oder vielmehr dem Fräulein. Denn der huscheligen Annemie mochte Großmama nicht hundert Mark anvertrauen.
Was dem einen recht ist, ist dem anderen billig. Natürlich wollten nun auch die Jungen Gold für die Schulsammlung. Und den Rest, den brachte die Großmama dann eigenhändig zur Reichsbank. Nie hätte sie gedacht, daß sie das gehütete Gold aus freien Stücken abliefern würde. Aber die kluge und vaterlandsliebende Frau hatte inzwischen erkannt, daß es notwendig war, das Wohl des einzelnen dem Wohl der Gesamtheit hinten an zu setzen. »Ja, ja, die Welt ist jetzt umgekehrt, die Alten lernen von den Jungen«, sagte sie halb im Ernst halb im Scherz zu Tante Albertinchen, die sie oft besuchte.
Aber als die drei Kinder eines Tages gar einen Sturmangriff auf ihren Haushalt unternahmen, ging ihr das denn doch über den Spaß. Auf ihre Kupferkessel, ihre schönen, großen, in deren Glanz sie sich jeden Sonnabend, wenn die geputzt waren, spiegelte, hatten sie es abgesehen. Die sollte die arme Großmama
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