Nesthäkchen 04 - Nesthäkchen und der Weltkrieg
erinnert.
Nesthäkchens zwölfter Geburtstag fiel in die Ferien. Die gute Großmama hatte, trotzdem ihr gar nicht nach fröhlichem Feiern zumute war, erlaubt, daß Annemarie sich ihre vier besten Schulfreundinnen zur Geburtstagsschokolade einladen durfte. Das Kind sollte den festlichen Tag so heiter als irgend möglich begehen. Den Kurt hatte Annemarie ebenfalls dazu gebeten. Einen Augenblick hatte sie geschwankt, einen ganz kleinen nur, ob sie nicht auch Vera auffordern sollte. Hier war eine Gelegenheit, ihr Unrecht gut zu machen. Das fühlte sie deutlich. Mit einem Schlage würde Veras Stellung in der Klasse verbessert sein, wenn es hieß, Annemarie Braun habe sie eingeladen. Und wie würden die blauen Augen, die immer so traurig blickten, aufleuchten!
Gleich darauf hatte Annemarie aber diesen Gedanken als ganz unmöglich von der Hand gewiesen. Nein, was würden wohl ihre Freundinnen für Gesichter dazu machen. Und um ihr Vergnügtsein war es auch geschehen, wenn Vera dabei war. Sie würden sich sicherlich durch ihre Anwesenheit alle bedrückt fühlen. So ließ Annemarie den günstigen Augenblick ungenützt verstreichen.
Der 9. April brachte dem Geburtstagskind als schönstes Geburtstagsgeschenk ein an Fräulein Annemarie Braun gerichtetes Schreiben aus England. Mutti war wieder frei! Die Engländer hatten, da nicht das geringste Belastungsmaterial, außer dieser unvorsichtigen Äußerung, vorlag, die Gefangene aus der Haft entlassen. Allerdings mußte sie sich jede Woche auf der Polizei melden, und – nun kam das weniger Schöne – sie durfte England in absehbarer Zeit nicht verlassen. Aber Annemarie und alle übrigen Familienmitglieder waren trotzdem wie aufgebunden. Mochte die Mutter ruhig noch in England bleiben – ewig konnte der Krieg ja nicht währen – wenn nur ihr Leben gesichert war! Wenn sie nur nicht mehr in der Gefangenschaft schmachtete!
Jetzt erst hatte das Geburtstagskind richtige Freude an den Geschenken, mit denen jeder einzelne im Hause das allgemein beliebte Nesthäkchen bedacht hatte.
Zwar hatte Annemarie nur um Geld gebeten, um dafür Liebesgaben ins Feld senden zu können, aber Großmama hatte dem Enkelchen selbst Liebesgaben aufgebaut. Wenn auch im bescheidenem Maße, wie es in der Zeit entsprach.
Nur daß die Glückwunschkarte von Vater ausgeblieben war, schmerzte Annemarie. Er hatte jetzt als Arzt Schützengrabendienst, da mochte sich sein Schreiben wohl verspätet haben.
Aber von Vera Eberhard, ihrer Breslauer Freundin aus dem Kinderheim, kam ein lieber Brief. Wie nett von der Gerda, daß sie an ihren Geburtstag gedacht hatte. Ihr Vater, der Hauptmann war, lag verwundet im Lazarett. Da wollte Annemarie ganz froh sein, wenn von ihrem Vater der Geburtstagsbrief auch unpünktlich ankam. Die Hauptsache, daß Vater gesund war.
Tante Albertinchen erschien heute zu Tisch. Ihre fleißigen Finger hatten für das Lieblingsnichtchen eine wunderhübsche Bluse gestickt. Auch ein Herr, einen Blumenstrauß in der Hand, stellte sich vormittags zur Besuchszeit ein – in Windelhöschen und im ersten, von den Junghelferinnen selbst fabrizierten kurzen Kleidchen. Annemaries Junge benahm sich heute, dem Geburtstag seiner kleinen Pflegemutter zu Ehren, höchst manierlich. Er schrie nicht, lachte sie an und erzählte lange Mordsgeschichten, die kein Mensch verstehen konnte. ‚Rackerlatein‘ nannte Großmama seine Sprache. Nur von dem Blumensträußchen wollte sich das jetzt dreiviertel Jahre alte Mäxchen durchaus nicht trennen.
Die Nachmittagsschokolade verlief höchst vergnügt. Der Riesenkriegskuchen, den Hanne gebacken, fand dankbare Abnehmer. Das war ein Lachen und Schwatzen, Kichern und Tuscheln, daß selbst die alten Damen dabei wieder jung wurden und an den fröhlichen Gesellschaftsspielen teilnahmen. Auch Klaus ärgerte heute die Mädels ausnahmsweise nicht; er verzichtete selbst auf das Vergnügen, Puck auf die furchtsame Margot zu hetzen. Die Anwesenheit des netten, bescheidenen Kurts wirkte höchst wohltuend auf den wilden Jungen.
Beim Pfänderauslösen wurden für jedes Pfand schwere Strafen erdacht, wie ‚Steine karren‘, einen Ring mit dem Munde aus einem Berg Mehl herausgraben und andere lustige Dinge mehr. Als wieder ein Pfand hochgehalten wurde, mit der Frage: »Was soll der tun, dessen Pfand ich hab' in meiner Hand?«, rief plötzlich Marianne lachend: »Mit der ‚Polnischen’ in der nächsten Zwischenstunde gehen!« Es war Annemaries rote Haarschleife, welche diese nicht
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