Nesthäkchen 04 - Nesthäkchen und der Weltkrieg
des Frühlings. Nachdem sie einige Tage gedrückt und still einhergegangen, erwachte allmählich wieder Jugendfrohsinn und Jugendhoffnung. Noch war ja nichts verloren, vielleicht war die Mutter überhaupt schon wieder auf freien Fuß gesetzt, die Briefe blieben ja so lange unterwegs. Wozu den Kopf hängenlassen, wenn noch gar kein Grund dazu war!
Die beängstigende Stille, die mehrere Tage im Braunschen Hause geherrscht, macht allmählich gewohnter Lebhaftigkeit Platz. Klaus schmetterte wieder durch die Wohnung, und Nesthäkchen begann wieder zu singen und zu springen. Nur manchmal blickten die Kinderaugen so nachdenklich drein, daß die liebe Frühlingssonne Mühe hatte, den ungewohnten Ernst darin fortzulachen.
Hans, seit Oktober Unterprimaner, hatte am meisten durch die böse Nachricht gelitten. Ganz still, ganz für sich. Keiner merkte es, wie tief es dem Jungen gegangen. Er nahm sich mit aller Kraft zusammen, um als Ältester der Großmutter in den schweren Tagen eine seelische Stütze zu sein. Nur einmal kam es zum Ausbruch: »Wenn doch Vater erlauben würde, daß ich mich stelle, zwei aus meiner Klasse sind schon im Felde. Wenn ich doch gegen die Engländer ziehen könnte! Jede Träne, die Mutti vergießt, sollten sie mit ihrem Blut bezahlen!« Großmama sah ganz erschrocken auf den Erregten. Was hatte der Krieg aus dem sanften Jungen gemacht!
Zu Ostern war Nesthäkchen als Zweite in die fünfte Klasse versetzt worden. Die Erste war diesmal Ilse Hermann geworden. Annemaries Zensur war vorzüglich ausgefallen, aber sie hatte keine rechte Freude daran. Trotz des Theaterbilletts zu ‚Wilhelm Tell‘, das Großmama ihr und Klaus, der sich auch in diesem ernsten Winterhalbjahr mehr Mühe gegeben, schenkte. Ja, wenn Vatchen und Mutti sich hätten über ihre fleißige ‚Lotte‘ freuen können, aber so ...
Nesthäkchen hatte es in diesen Kriegsmonaten bereits gelernt, daß es für jeden galt, Opfer zu bringen. Doch es wollte dem glücksverwöhnten kleinen Mädel scheinen, als ob kein anderer so große Opfer zu leisten habe, als es selbst. Von den Mitschülerinnen war doch nur der Vater draußen im Felde, die Mutter hatten sie doch fast alle daheim. Sie aber mußte Vater und Mutter entbehren, und noch um das Leben der letzteren zittern. Denn die Worte von Klaus hatte Annemarie durchaus nicht vergessen. Wie einen Stich fühlte sie dieselben oft durch ihr Herz zucken, manchmal mitten in der Schulstunde.
Meist war dies der Fall, wenn ihr Blick die schwarzlockige Vera streifte. All das Weh, das sie dem armen Mädchen durch ihren unbegründeten Verdacht zugefügt hatte, empfand Doktor Nesthäkchen jetzt selbst, wenn sie an ihre gefangene Mutter dachte. Hatte sie Vera nicht ein gleiches Unrecht getan, wie die Engländer ihrer Mutti? Pfui – und sie war ein deutsches Mädchen, war stolz darauf, es zu sein.
»Mach's gut, es ist nie zu spät zum Gutmachen!«, flüsterte in Annemarie die Stimme, die oft unbequem ist, aber immer den richtigen Weg weist. Dann hatte Annemarie wohl auch den besten Willen dazu, aber – es war so schwer! Die Kleine schreckte davor zurück, vor den Schulkameradinnen einzustehen, daß sie unrecht gehandelt hatte.
Und doch war Vera diejenige in der Klasse, bei der selbst Annemarie anerkennen mußte, daß diese es noch schlechter habe als sie selbst. Zu ihr waren doch alle lieb und freundlich. Vera aber war gemieden und ausgestoßen. Keine Mutter, keine Heimat – nein wirklich, im Vergleich mit Vera konnte sie noch ganz zufrieden sein.
Auch das die ‚Polnische‘ sich nicht die Spur rachsüchtig benommen, mußte Annemarie zugeben. Kein Wort war von ihr über Annemarie Brauns Jungenanzug in der Schule verlautet. Nur dagestanden hatte die Vera am nächsten Tage, nachdem Annemarie im Hause ihrer Tante die Wollsachen abgeholt, und hatte sie mit ihren großen Augen halb fragend, halb bittend angesehen. Als wollte die sagen: »Was habe ich dir nur getan, daß du mich nicht magst?«
Aber Annemarie, die ihre Freundin Margot umschlungen hatte, war zu sehr mit sich selbst und ihrem eigenen Kummer um die Mutter beschäftigt. Die hatte keinen Blick für die bekümmerte Vera.
Je mehr Tage vergingen, um so unmöglicher erschien es Annemarie, ihr Benehmen gegen Vera plötzlich zu ändern. Was hätte diese selbst davon wohl gedacht! Ordentlich froh war sie, als die Osterferien begannen; nun wurde sie durch den Anblick des schwarzhaarigen Mädels doch nicht täglich an ihre Schlechtigkeit
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