Nesthäkchen 05 - Nesthäkchens Backfischzeit
und herein trat der Vater mit kältegerötetem Gesicht. »Eine Pflicht darf nicht um einer andern willen vernachlässigt werden. Ich gehe jetzt auch in meine Sprechstunde und der Klaus in die Schule.«
»Och«, machte Nesthäkchen enttäuscht. »Ich habe mich schon so auf das Schneeschippen gefreut.«
»Ich fürchte, wenn das draußen so weitergeht, werdet ihr nachmittags noch antreten müssen und Hanne auch«, scherzte der Vater, auf die gerade mit heißem Kaffee eintretende rundliche Küchenfee weisend.
»Ja, Kuchen ... nischt zu machen! Mit mir soll Kulicke unten«, das war der Hausmeister, »man ja nich anfangen. Wenn andere Leute so varrickt sind und ihm seinen Schnee vor'n Haus wechschippen, ich hab' Jott sei Dank noch meine jesunden Sinne. Und ieberhaupt weiß ich, was ich mich als herrschaftliche Köchin schuldig sein tu.« Hanne war empört darüber, daß »ihr Doktor« so wenig Standesbewußtsein hatte und sich zum Schneeschippen zur Verfügung gestellt hatte. Was sollten denn bloß die Patienten davon denken!
»Also Hanne, heute nachmittag treten wir zusammen zum Schneeschippen an«, neckte nun auch Annemarie.
»Du mach, daß de in de Schule kommst und ieberhaupt hab' ich das Reißen in alle Knochen!« Damit schmetterte Hanne aufgebracht die Tür zu.
»Komische alte Kruke!« lachte Klaus hinter ihr her.
Annemarie aber warf einen besorgten Blick auf die Standuhr in der Ecke. Himmel, zehn Minuten vor acht! Die pflichteifrige Margot, mit der sie meistens den Schulweg zurücklegte, würde sicher nicht mehr unten warten. Die Pelzmütze auf das Blondhaar gestülpt, Mantel angezogen ... Schultasche. Was fehlte noch? Richtig, die Hauptsache: das Frühstück!
»Lotte, die hohen Stiefel! Daß du mir bei dem Schneewetter nicht ohne Stiefel gehst«, rief die Mutter besorgt.
»Jetzt habe ich aber wirklich keine Zeit mehr dazu, es ist wahnsinnig spät.« Annemarie wollte auf und davon.
»Du ziehst die Stiefel an, Annemarie!« Das war Vaters bestimmter Ton, gegen den es keine Einwendung gab. Und überhaupt, wenn er Annemarie und nicht Lotte zu ihr sagte, dann war er ärgerlich. »Du hattest Zeit genug, früher anzufangen.«
Annemarie zerrte bereits ihre sämtlichen Schuhe aus dem Stiefelschrank. Himmel, wo waren die Stiefel bloß?
Nesthäkchen raste vom Zimmer zum Korridor und vom Korridor ins Zimmer zurück. »Meine Stiefel sind sicher gestohlen worden, ein Patient wird sie mitgenommen haben«, jammerte sie. »Ich muß aber wirklich jetzt fort!«
»Annemiechen, hier sind se ja. Du hast se jestern bei mich in der Küche jelassen.«
Hanne brachte Fräulein Liederlich, die gerade entwischen wollte, die vermißten Stiefel hinterher. »Ich muß se aber noch'n bißchen saubermachen, se sind zu dreckig.«
»Schadet nichts ... ich muß zur Schule.« Annemarie war bereits in einem drin.
»Reg dir nich so auf, Kind, du lernst doch noch mehr als jenuch.« Annemarie hörte Hanne längst nicht mehr.
Nein, war das heute ulkig auf der Straße. Man konnte in dem tollen Schneegetriebe kaum die Augen aufhalten. Keine Straßenbahn fuhr, weil die Gleise alle verschneit waren. Die Schneeböschung längs des Fußsteiges war so hoch, daß Annemarie nur mit Mühe darüber hinwegsehen konnte. Ach, der alte Geheimrat von nebenan war ja auch beim Schneeschippen dabei. Und die junge Frau Assessor, der Student von Nummer neunzehn und der dicke Schlächtermeister, alles durcheinander.
Das Vorwärtskommen in dem hohen Schnee war nicht so einfach. Einen Schritt ging man, einen rutschte man. Und nun noch mit den hohen Stiefeln, die so unbequem und lästig waren.
Heiliges Kanonenrohr ... dieser Kraftausdruck stammte natürlich von Klaus ... die Schuluhr wies ja fast schon auf halb neun. Tiefe, beklemmende Stille auf den Treppen und in den Gängen. Aus den unteren Klassen der Schule klangen die lauten, plärrenden Stimmen der kleinen Abc-Schützen zusammen im Chor.
Herzklopfend stand Annemarie endlich vor der Tür, die ein Schild »Untersekunda« trug.
»Nanu?« Fräulein Neubert richtete die Augen hinter den großen, runden Hornbrillengläsern ... »Eulenaugen« nannten sie die bösen Mädel ... auf die plötzlich auftauchende Schülerin. »Nanu?« sagte sie noch einmal und nichts weiter. Aber in diesem Schweigen lag eine sprechendere Strafpredigt, als wenn die Oberlehrerin eine lange Rede gehalten hätte.
»Ach, entschuldigen Sie, bitte, Fräulein Neubert«, begann Annemarie möglichst unbefangen, »es schneit nämlich draußen so
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