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Nesthäkchen 05 - Nesthäkchens Backfischzeit

Nesthäkchen 05 - Nesthäkchens Backfischzeit

Titel: Nesthäkchen 05 - Nesthäkchens Backfischzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Else Ury
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Noch steht vor ihr das drohende, immer näher kommende Schreckgespenst: das Abitur.
    O Gott! ... Annemarie war seit Tagen gar kein Mensch mehr. Nur noch ein Examensbüffel. Dieser Ehrentitel stammte natürlich von Klaus, der nach eigenen berühmten Mustern der Schwester dringend davon abriet, auch nur noch ein Buch anzurühren. »Je weniger man zum Examen büffelt, umso besser besteht man es. Durch Lernen verdummt man bloß, und der gesunde Menschenverstand rostet ein.«
    Aber Annemarie hatte wenig Zutrauen zu den Weisheitssprüchen des Studenten. Die hielt sich lieber an Hans, der sich täglich die Zeit nahm, eine Stunde Latein und Mathematik mit der Schwester zu wiederholen. Die schriftlichen Klassenarbeiten waren wenigstens schon durchschwitzt.
    Und nun stand er unmittelbar bevor, der furchtbare Tag. Morgen ... morgen um diese Zeit! Da trug sie entweder stolz das Reifezeugnis in der Hand oder, was wahrscheinlicher war, sie war mit Pauken und Trompeten durchgerasselt. Hatte es Margot Thielen am gegenüberliegenden Fenster nicht viel besser? Der preßte der herannahende morgige Tag nicht das Herz mit tausend Examensqualen ab. Die saß gemütlich da drüben und entwarf zierliche Formen für Buchschmuck, Möbelstoffe und Handarbeiten. Denn sie besuchte die Kunstgewerbeschule. Auch Vera Burkhard beneidete Annemarie heute. Wie hatte sie damals, zwei Jahre waren es gerade her, bedauert, daß Vera, welche die Reife für Unterprima nicht erlangt hatte, das Gymnasium verlassen mußte. Einen »Tyrann« hatte sie Veras Onkel heimlich gescholten, daß er ihrem täglichen Beisammensein erbarmungslos ein Ende gemacht hatte. Und heute? Wie dachte Annemarie heute darüber? Klug und einsichtsvoll hatte der Regierungsrat von Hohenfeld gehandelt, daß er Vera im Lettehaus künstlerische Fotografie erlernen ließ; daß er sie nicht den Examensnöten des morgigen Tages ausgesetzt hatte.
    Dort im Schrank hing das neue Examenskleid. Dunkel natürlich, der düsteren Schwere des Tages entsprechend. Mutti ahnte nicht, daß es morgen schon das Tageslicht erblicken sollte. Mutti und Vati sollten sich nicht auch noch um ihre Lotte aufregen und Sorgen machen. Dazu war Zeit genug, wenn sie durchgeplumpst war.
    An das Fenstersims, vor dem der weiße Schreibtisch stand, schoß im Bogenflug ein Schwälbchen vorüber. »Quiwitt ... quiwitt ... komm mit ... komm mit« so zwitscherte es lockend. Annemarie beachtete es nicht.
    Die Telefonklingel ... Annemarie hatte es sich während der letzten Arbeitswochen abgewöhnt, sich dadurch stören zu lassen. Hannes Gesicht lugte zur Tür herein.
    »Annemiechen, du sollst am Telefon kommen ...«
    »Zum Kuckuck, ich habe keine Zeit.«
    »Hab' ich ja auch schon Fräulein Veran gesagt. Aber se sagt, se mußte dir sprechen, sagte se.«
    »Na ja, ich komm' gleich.« Die sonst liebenswürdige Annemarie rief es ungehalten. Nervös und aufgeregt war sie durch das angestrengte Lernen und das Angstfieber vor dem morgigen Tage geworden.
    »Na, wenn dis varrickte Examen vorüber is, mach' ich auch drei Kreuze hinterdrein«, brummte Hanne ingrimmig.
    »Nee, Hanne, dann gibt's anderes für Sie zu tun. Dann müssen Sie backen und kochen für unser Abiturientenfest. Wenn ... ja, wenn mich der Deibel nicht ans Schlafittchen genommen hat!« Das war wieder das lustige Nesthäkchen.
    »Verachen ... bist du's?« erklang's gleich darauf am Telefon. »Wie mir's geht? Na, ungefähr so, wie dem Verurteilten kurz vor der Hinrichtung. Nein, mein Herz, ich gehe heute nicht mit dir spazieren! Ich lerne heute doch nichts mehr? Na, wenigstens brauche ich mir keine Vorwürfe zu machen, wenn's schiefgeht. Du kommst morgen hin ? Kneife beide Daumen ... alle guten Geister seien mir gnädig!«
    Wieder nur Sonnengeflirr und Lenzesweben draußen ... drinnen Federgekritzel und Seitengeraschel. Plötzlich wurde das Physikbuch, in dem Annemarie gerade studierte, mit lautem Knall zugeschlagen.
    »Schluß!« sagte eine Stimme hinter Annemarie. »Zieh dich an, wir gehen in den Tiergarten.«
    »Nein, Hans, ich habe noch schrecklich viel zu wiederholen. Physik, die Gegenkaiser, schwäbische Dichterschule, Latein und Miltons Paradies. Vor Mitternacht werde ich damit nicht fertig.«
    »Und dann willst du morgen frisch ins Examen steigen, Kleines? Nichts da. Was du heute noch nicht weißt, wirst du in den paar Stunden auch nicht mehr erwischen. Jetzt gehen wir spazieren. Dann ißt du Abendbrot und legst dich um halb zehn ins Bett. Es ist wichtiger, daß man

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